Preußen

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Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600– 1947 (engl. Iron Kingdom. The Rise and Fall of Prussia, London 2006),
Christopher Clark, München: DVA 2007.

Ein großer Wurf ist dem australischen, in Cambridge lehrenden Historiker Christopher Clark mit seiner Geschichte Preußens gelungen. Die Schilderung von Aufstieg und Niedergang des preußischen Staates stellt den Autor in die Reihe der erzählenden Historiker vom Schlage Golo Manns und Thomas Nipperdeys. Clark erreicht das, indem er sich deutlich fernhält von der längst erledigten, aber immer noch in den Köpfen spukenden Sonderwegsthese, aber auch von propreußischer »Lagerfeuerromantik«. Aus dieser doppelten Umklammerung befreit er Preußen, indem er ein durchgängiges und wohltuendes »Pathos der Distanz« (Friedrich Nietzsche) gegenüber seinem Forschungsgegenstand bewahrt. Eine gewisse Sympathie allerdings für jenes positive Preußenbild, das liberale und konservative Historiker in der Nachkriegszeit gezeichnet haben, scheint auch bei Clark durch.

»Als australischer Historiker, der im Cambridge des 21. Jahrhunderts arbeitet, bin ich glücklicherweise von der Verpflichtung (oder Versuchung) befreit, das historische Erbe Preußens zu beklagen oder zu feiern. Vielmehr stellt dieses Buch den Versuch dar, die Kräfte zu verstehen, die Preußen geformt und zerstört haben.«

In einer sehr klugen, abwägenden und bei jeder Position das rationale Moment suchenden Art widerspricht Clark auf höfliche Weise gängigen antipreußischen Klischees. So erscheint etwa der Angriff Friedrichs des Großen auf Schlesien nicht als beispielloser Akt verbrecherischer Aggression, sondern als durchaus übliche Vorgehensweise im Vergleich zu den anderen europäischen Mächten; überhaupt ist der vielbeschworene preußische Militarismus im gesamteuropäischen Vergleich keineswegs singulär. Die Kammerdienerperspektive (zum Beispiel bei der Frage der »sexuellen Orientierung« Friedrichs des Großen) wird weitgehend vermieden, und modische Genderfragen werden von Clark wenn, dann nur dezent und sehr klug behandelt, so etwa bei der nicht ins übliche Rollenbild passenden Frage der besonderen Bedeutung, die die Frauen der preußischen Gutsbesitzer gespielt haben. Bei aller Betonung der Versäumnisse deutscher Politiker in den Jahren vor 1914 tendiert Clark auch dazu, den Ersten Weltkrieg als einen Konflikt zu interpretieren, der sich letztlich zwangsläufig aus der »deutschen Revolution« (Benjamin Disraeli) von 1871 ergeben habe.

Das größte Können und zugleich die größte Sympathie beweist Clark allerdings da, wo er die spezifisch preußische Aufklärung und ihr fruchtbares Zusammengehen mit dem preußischen Staat schildert. Hier liegt für Clark auch das eigentlich Besondere an Preußen: eine bestimmte Ausprägung der Moderne, gekennzeichnet durch moderat aufgeklärten Etatismus, vertreten durch die Philosophien Kants und Hegels und verkörpert in der Gestalt Friedrichs des Großen. Von dieser modernetatistischen Tradition meint Clark sogar, daß sie in ihrer staatssozialistischen Ausprägung Ende des 19. Jahrhunderts das Potential gehabt habe, »die Misere des Königshauses zu überwinden«. Letztlich sei dieses Preußen aber untergegangen durch eine doppelte Bedrohung: durch den Partikularismus der Altkonservativen »von unten«, und durch den modernen Nationalismus »von oben«. Angesichts solcher deutlichen Akzente gegen das bis heute überwiegend negative Preußenbild überrascht es, daß das Buch in allen größeren deutschen Feuilletons gefeiert und Clark 2010 mit dem Deutschen Historikerpreis ausgezeichnet wurde.

Ausgabe

Der Artikel wurde von Johannes Ludwig verfaßt.