Neuschwanstein – Schloß
- Bayern, oberhalb von Hohenschwangau bei Füssen
Will man auf eine kurze Formel bringen, was Neuschwanstein für ein weltweites Publikum versinnbildlicht, so ließe sich sagen: »Es ist das Märchenschloß vom Märchenkönig. « Magisch zieht das imposant und zugleich »märchenhaft« gelegene Schloß die Touristenströme an. Während der Hochsaison kommen bis zu 10 000 Besucher täglich, jährlich sind es weit mehr als eine Million. Ein lukratives Geschäft für den Freistaat Bayern, denn die Eintrittspreise sind stattlich, zudem bringt der Menschenstrom klingende Münze in die umliegende Touristenbranche. Neuschwanstein ist neben dem Brandenburger Tor das bekannteste deutsche Bauwerk in Europa, weltweit ist es sogar das bekannteste überhaupt. Es ist ein deutscher Exportschlager: vervielfacht auf unzähligen Abbildungen, Motiv für Briefmarken und Münzen, begehrte Filmkulisse, Inspirationsquelle für Künstler wie z. B. Andy Warhol, der es zum Thema eines seiner Pop-Art-Bilder machte, und nicht zuletzt Vorbild für die Märchenschlösser in den Disney-Produktionen. Neuschwanstein – eine gebaute Märchenwelt für Abermillionen – wurde ersonnen von einem König, der als hochgradig menschenscheu galt und der das Schloß ganz allein für sich und einige vertraute Diener, aber ganz ohne Hofstaat, ganz ohne Gäste, geschweige denn Touristen geplant hatte und dessen Lebensmotto lautete: »Ein ewige Rätsel bleiben will ich mir und anderen.«
Von den drei Schlössern, die Ludwig II. von Bayern errichtet hat, ist Neuschwanstein das mit Abstand berühmteste. Die beiden anderen Schlösser, Linderhof und Herrenchiemsee, sind im Barock- und Rokokostil errichtet und spiegeln Ludwigs Bewunderung für das absolutistische Frankreich, besonders für den Sonnenkönig Ludwig XIV. (➞ Versailles), wider; denn der menschenscheue Bayernkönig, bei dem möglichst alles im verborgenen bleiben sollte, erblickte in dem machtbewußten Bourbonenkönig, bei dem nahezu alles öffentlich war, sein großes Vorbild. Doch das bei Füssen errichtete Neuschwanstein entführt uns in eine gänzlich andere Welt, in ein idealisiertes deutsches Mittelalter. So schrieb der junge König am 15. März 1868 an den von ihm schwärmerisch verehrten Richard Wagner (➞Bayreuth): »Ich habe die Absicht, die alte Burgruine Hohenschwangau bei der Pöllatschlucht neu aufbauen zu lassen im echten Styl der alten deutschen Ritterburgen, und muß Ihnen gestehen, daß ich mich sehr darauf freue, dort einst … zu hausen.«
Die Errichtung pseudomittelalterlicher Burgen war im 19. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches: Die Hohenzollern erinnerten sich ihrer schwäbischen Herkunft und bauten von 1819 an die verfallene Stammburg wieder auf (➞ Hechingen), die Badener restaurierten Eberstein, die Herren von Sachsen-Coburg ließen die Feste Coburg wieder wohnbar machen, in Österreich wurde Anif neugotisch zurechtgemacht, der Erbgroßherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar ließ 1842 die Wartburg wiederherstellen, und die Welfen erbauten im Kreis Hannover von 1857 bis 1866 die Marienburg. Das Besondere an Ludwigs Schloßbauten war allerdings, daß der Monarch weit mehr als andere Herrscher in die Planungen eingriff, sie immer wieder abänderte, am Ganzen wie am Detail Interesse zeigte, so daß die Schlösser, so wie sie heute vor uns stehen, nicht zuletzt auch seine eigenen Schöpfungen sind. Bauten und Bauherr verschmolzen hier gewissermaßen miteinander.
1869 wurde mit dem Bau von Neuschwanstein begonnen. Der Entwurf geht auf den Theatermaler Christian Jank zurück. Die Ausführung übernahmen nacheinander die Architekten Eduard Riedel, Georg von Dollmann und Julius Hofmann. Da die Wünsche und Ansprüche des Königs mit dem Bau wuchsen, mußten die Entwürfe mehrfach überarbeitet werden. Dadurch schnellten auch die Kosten in die Höhe, und die Fertigstellung, die ursprünglich bereits für 1872 geplant war, verzögerte sich immer wieder. Von 1869 bis 1873 wurde der Torbau fertiggestellt und eingerichtet, so daß Ludwig hier zeitweilig wohnen und die Bauarbeiten verfolgen konnte. Im Jahr 1880 war Richtfest für den Palas, der 1884 bezogen werden konnte. 1886, beim Tod des Königs, war das Schloß noch nicht vollendet. Man stellte die Bauarbeiten jedoch nicht sofort ein. Die Kemenate, ebenso wie das Ritterhaus, wurde – vereinfacht – ausgeführt. Ungebaut blieb das Kernstück der Schloßanlage: ein 90 Meter hoher Bergfried, eine dreischiffige Schloßkapelle, ein Verbindungsflügel zwischen Torhaus und Kemenate und der Burggarten. Von den Innenräumen wurde nur ein kleinerer Teil, gleichwohl der wichtigste, fertiggestellt: so die Prunkräume des Königs, der Sängersaal und der Thronsaal (allerdings ohne Thron).
Neuschwanstein ist auf einem Felsenrücken errichtet und besteht aus mehreren einzelnen Baukörpern, die sich auf eine Länge von rund 150 Metern erstrecken. Die langgezogene »Ritterburg« erhält mittels zahlreicher Türme, Ziertürmchen, Giebel, Balkone, Zinnen und Skulpturen ihren pittoresken Charakter. Stilistisch dominiert die Romanik, das Schlafzimmer des Königs ist, ebenso wie die geplante Schloßkapelle, neugotisch, der Thronsaal byzantinisch. Neuschwanstein darf gewissermaßen als eine bewohnbare Theaterkulisse gelten, bezeichnend dafür ist auch, daß die Entwürfe dazu nicht von einem Architekten, sondern von dem Theatermaler Christian Jank stammen. Besonders dem Werk Richard Wagners wird in Neuschwanstein gehuldigt. Die Wandmalereien greifen Themen aus dessen Musikdramen auf. Der Sängersaal nimmt nicht nur auf den Sängersaal in der Wartburg Bezug, sondern ebenso auf Wagners Tannhäuser. Selbst die Kemenate und das Ritterhaus, für die im Grunde kein Raumbedürfnis bestand, wurden einzig dazu errichtet, um das Motiv der »Burg aus Antwerpen« aus dem ersten Akt von Lohengrin zu zitieren.
Ludwig II. verbrachte bis zu seinem Tode 1886 lediglich 172 Tage auf Neuschwanstein, allerdings setzte hier auch sein tragisches Finale ein. Am 10. Juni 1886 erschien eine von der bayerischen Regierung berufene Kommission auf Neuschwanstein, um den König abzusetzen und zu entmündigen. Ludwig ließ die Regierungskommission zunächst im Torhaus einsperren, gab ihr jedoch kurz darauf ihre Freiheit zurück. Am nächsten Tag kam eine zweite Kommission unter der Leitung des Psychiaters Bernhard von Gudden und brachte den König mit dessen Einverständnis nach Schloß Berg am Starnberger See. Dort ertränkte sich Ludwig höchstwahrscheinlich selbst und riß von Gudden, der ihn vermutlich von der Tat abhalten wollte, mit in den Tod. – Bereits sechs Wochen nach dem Tod des Königs wurde Neuschwanstein für Besucher geöffnet. Mit den Eintrittsgeldern sollte ein Teil der Kredite bezahlt werden, die Ludwig aufgenommen hatte, um seine Schloßbauten zu finanzieren.
Von den Vertretern der etablierten Architektur- und Kunstgeschichte wurden die Schloßbauten Ludwigs II. lange Zeit geflissentlich ignoriert. Alles, was nicht in gerader Linie zur Moderne hinführte, galt ihnen als obsolet. Eine historistische »Ritterburg« wie Neuschwanstein konnte da bestenfalls belächelt werden. Dabei übersahen sie in ihrer intellektuellen Überheblichkeit jedoch, daß dieser Sehnsuchtsort von Millionen Menschen durchaus ein Novum darstellt: Die echten Ritterburgen hatten einen klaren, »harten«, nämlich fortifikatorischen Zweck zu erfüllen. Neuschwanstein hingegen ist der gebaute Traum eines Märchenkönigs und wurde damit zum Archetypus eines Märchenschlosses.
Literatur
- Heinz Häfner: Ein König wird beseitigt. Ludwig II. von Bayern, München 2008.
- Rolf Linnenkamp: Die Schlösser und Projekte Ludwigs II., München 1977.
- Michael Petzet: Gebaute Träume. Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern, München 1995.
- Sigrid Russ: Neuschwanstein. Der Traum eines Königs, München 1983.
Der Artikel wurde von Norbert Borrmann verfaßt.