Mitte
Mitte ist wie »Linke« und »Rechte« eine räumliche Bezeichnung, die ins Ideologische übertragen wurde. Die Mitte bezogen in der französischen Nationalversammlung 1789 jene Abgeordneten, die als Gemäßigte weder den Radikalen noch den Königstreuen zuzurechnen waren. Diese auf Ausgleich gehende Tendenz hat allerdings schon im zweiten Parlament der Revolutionszeit die Grenzen ihrer Wirksamkeit gezeigt, als man zwischen dem jakobinischen »Berg« (am oberen Rand des Halbrunds der Sitze) und der girondistischen »Ebene« (am unteren Rand) nur noch den »Sumpf« der Opportunisten ausmachte, die sich einmal hierhin, einmal dorthin wandten, je nachdem, wo sie die stärkeren Kräfte vermuteten.
»Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis.«
Die (kluge) Ablehnung der Extreme einerseits, die (feige) Unselbständigkeit gegenüber den Mächtigen andererseits kennzeichnen seither die politische Mitte, die im 19. wie im 20. Jahrhundert vor allem durch den Liberalismus oder allgemeiner die bürgerlichen Parteien bestimmt wurde. Diese Ambivalenz hat der Anziehungskraft in Zeiten der Ruhe nie geschadet, wenn die Mehrheit, ohne auf die Möglichkeit des Ernstfalls Gedanken zu verwenden, nach einer Position der Ruhe sucht, die ihrer unpolitischen Neigung möglichst entgegenkommt. Das erklärt hinreichend die starke Tendenz der etablierten politischen Gruppierungen zur Bildung von immer »neuen Mitte«.
»Der Preis, welcher der politischen Opposition gegen das Mittelmaß für ihre Leistung abverlangt wird, ist hoch. Daß der Staat auf sie mit den klassischen Methoden der Einschüchterung und Repression vorgeht, ist in einem Land mit unseren Traditionen wohl unvermeidlich. Schwerer fällt ins Gewicht, daß sich das radikale politische Denken und Handeln, seiner eigenen Logik zufolge, in einem bisher unbekannten Ausmaß von der Mehrheit isoliert.«
Dabei soll gar nicht geleugnet werden, daß auch die Tradition der politischen Philosophie viel zugunsten der Mitte zu sagen wußte. Für Aristoteles vor allem ging es darum, eine Verfassung der Mitte zu entwerfen, in der man die Einseitigkeiten der Monarchie wie der Anarchie vermied und Rechtsgleichheit wie Sicherheit verbürgt sehen konnte. Diese Art von Demokratie – ursprünglich »Isonomie« genannt – verkörperte seiner Meinung nach die beste denkbare Ordnung der Polis überhaupt. Die Mitte war nach Meinung des Aristoteles auch maßgeblich für das richtige ethische Verhalten, eine Vorstellung, in der ihm Epikuräer und Stoiker ebenso folgten wie die christliche Sittenlehre.
Es besteht hier eine deutliche Berührung mit der populären Idee der »rechten Mitte« und des »goldenen Mittelweges«, und gleichzeitig wird die begründete Kritik all derjenigen herausgefordert, die ahnen oder wissen, daß die Etablierung einer solchen, sich als maßvoll und pragmatisch dünkenden, Mitte regelmäßig das Zur-Herrschaft-Kommen des Mittelmaßes bedeutet.
Literatur
- Hans Magnus Enzensberger: Mittelmaß und Wahn, zuletzt Frankfurt a.M. 2005.
- Bernd Guggenberger und Klaus Hansen (Hrsg.): Die Mitte, Opladen 1993.
- Günter Maschke: Das bewaffnete Wort, Wien und Leipzig 1997.