Kritik und Krise

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Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt,
Reinhart Koselleck, Freiburg i. Br.: Alber 1959.

Ruf und Einfluß Reinhart Kosellecks in der Historiographie der Nachkriegszeit gehören zu den großen Rätseln der Zunftgeschichte. Vergleichbar ist wohl nur der Fall des Verfassungsrechtlers und -richters Ernst-Wolfgang Böckenförde. Beide hatten gemeinsam, daß sie zur »Schule« Carl Schmitts gehörten, daß sie als links galten; beide machten Karrieren, bei denen Faktor eins nicht zur Geltung kam, weil Faktor zwei überwog.

»Die bürgerliche Utopie ist das »natürliche Kind« der absolutistischen Souveränität. Damit ist der Staat seinen eigenen Bedingungen erlegen. Der Staat als Antwort auf die sich zersetzende christliche Katholizität war ein formales Ordnungsgefüge, das den Menschen als Menschen bewußt ausklammern mußte, wenn er seine Form wahren wollte.«

Man könnte ihren Erfolg insofern als Musterbeispiele für die indirekte Einflußnahme durch eine »société de pensée« (Augustin Cochin), eine »Denkgesellschaft«, nehmen, die Koselleck in seinem brillanten Buch mit dem nichtssagenden – oder hermetischen – Titel Kritik und Krise untersucht hat. Anders als in den nach 1945 üblich gewordenen Deutungen der vorrevolutionären Entwicklung greift Koselleck hier auf ein reaktionäres Interpretationsmuster zurück. Zwar behandelt er die Ideen der Aufklärer, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Opposition zur alten Ordnung traten. Er nimmt sie jedoch nicht als Substrate der Geistesgeschichte, sondern als Hinweise auf gezielte Subversion, auf die Entstehung einer Parallelgesellschaft, die sich aus den »Bürgern der Freimaurer-Demokratie« rekrutierte und alle Vorbereitungen traf, um an die Stelle des Ancien régime zu treten: »Im Zeichen des Maurermysteriums entstand das soziale Gerüst der moralischen Internationale, die sich aus den Kaufleuten und Reisenden, den Philosophen, Seeleuten und Emigranten, kurz den Kosmopoliten im Verein mit dem Adel und den Offizieren zusammensetzte. Die Logen wurden zum stärksten Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert.«

In den kosmopolitischen Logen, deren Einfluß bis in die Spitzen des Adels und der regierenden Häuser reichte, wurden die Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in eine, wenngleich begrenzte, Praxis umgesetzt. Sie bildeten eine Art Übungsfeld für das, was man schließlich im großen Ganzen verwirklichen wollte. Das allerdings war – was man allzu leicht vergaß – keine selbständige Größe, sondern das Produkt des absolutistischen Staates, der sich gegen die Parteien des konfessionellen Bürgerkriegs durchgesetzt, das religiöse Feld neutralisiert und damit erst die Voraussetzungen für jene Privatheit geschaffen hatte, die dann von seinen Feinden genutzt wurde, um an seinem Umsturz zu arbeiten und die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft zu realisieren.

Daß die politischen Entwürfe von 1789 und den folgenden Jahren utopischen Charakter hatten, steht für Koselleck außer Zweifel, da die Träger des revolutionären Umsturzes niemals Rechenschaft darüber ablegten, unter welchen Voraussetzungen ihr Handeln stattfand und erfolgreich war. Auch wenn man glaubte, am Beginn eines neuen Äons zu stehen, herrschte Unklarheit darüber, welche im genauen Sinn politischen Bedingungen in Rechnung zu stellen waren. Auch diese Interpretation weist selbstverständlich auf den Einfluß Schmitts zurück.

Ausgabe

  • Taschenbuchausgabe, 11. Auflage, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010.
Der Artikel wurde von Karlheinz Weißmann verfaßt.