Hans Peter Duerr
- Duerr, Hans Peter,
- geb. 6. Juni 1943 Mannheim.
Duerr ist ein deutscher Ethnologe. Er studierte in Wien und Heidelberg Ethnologie, Philosophie und Soziologie, promovierte 1971 im Fach Philosophie an der Universität Heidelberg und habilitierte sich 1981 an der Gesamthochschule Kassel, ebenfalls in Philosophie. Nach Lehraufträgen ab 1975 an der Universität Zürich war er von 1992 bis 1999 Professor für Ethnologie und Kulturgeschichte an der Universität Bremen. 1990 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und 1995/96 an der Europäischen Universität Florenz.
»Die Moderne schafft keine Originale mehr, sondern einen weichgekochten, stromlinienförmigen Durchschnittstypus. Der hat in der akademischen Konkurrenz die besseren Chancen auf Erfolg, aber er ist fad und uninteressant.«
Daß Duerr im Fach Philosophie sowohl promovierte als sich auch habilitierte, obwohl er sich immer als Ethnologe betrachtete, ist der Niederschlag seiner großen menschlichen und intellektuellen Eigenständigkeit, die sich nicht in vorgegebene, auch akademische, Klischees fügt. Duerr läßt sich nicht unter die Kategorien »rechts« oder »links« einordnen. So zog ihn zunächst eher das Anarchistische an, daher rührt seine Affinität zur Ethnologie, die sich ja mit traditionellen »Gemeinschaften« ohne formalem Herrschaftsapparat beschäftigte. Als junger Wissenschaftler stand er nach eigenem Bekunden zwar auch einmal links, alles doktrinär Verengte, sowie später auch die Ideologie der Political Correctness, ist Duerr jedoch wesensfremd. So wurde ihm seitens linker Ethnologen die Beziehung zu dem wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit belasteten Werner Müller vorgeworfen. Duerr lehnte es jedoch stets ab, den Kontakt zu Menschen, für die er Sympathie empfindet, aufgrund von unterschiedlichen politischen Ansichten abzubrechen. Daher trat er auch nicht in den SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) ein, seinerzeit die Kaderschmiede der universitären doktrinären Linken. – U. a. seine Ablehnung des institutionalisierten Feminismus an der Universität Bremen führte letztlich zu seiner Verabschiedung in den vorzeitigen Ruhestand.
Duerrs Werk Traumzeit (1978) erlangte schon bald den Status eines Kultbuchs und war auch ein großer Verkaufserfolg. Leider beruht dieser Erfolg teilweise auf einem Mißverständnis, denn das Buch fiel in die Hochzeit der New-Age-Ideologie, und es waren oft die Beschreibungen der Wirkung bewußtseinsverändernder Drogen, die dem Buch Leserschaft zuführte. Sowohl von den Fürsprechern und erst recht seitens der universitär etablierten Ethnologenschaft wurde jedoch oft übersehen, daß dieses Werk eine umfassende und vor allem methodisch gründliche ethnologisch- philosophische Untersuchung vormoderner Welterklärung vor dem Hintergrund einer nichtcartesianischen bzw. mythischen Ontologie ist. Damals begann die akademische deutsche Ethnologie, sich von einer ernsthaften Untersuchung des Mythos abzuwenden, um als Hilfswissenschaft der Entwicklungssoziologie die lange ersehnte »gesellschaftliche Relevanz« zu gewinnen, so daß derzeit noch nicht gesagt werden kann, ob Traumzeit eine längerfristig prägende Wirkung auf die Fremdkulturforschung ausübt.
Anders steht es um Duerrs Hauptwerk, den fünfbändigen monumentalen Zyklus Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (1988–2002), seine umfassende Kritik an Norbert Elias’ These, daß im Verlauf des letzten halben Jahrtausends der Triebhaushalt der Europäer in zunehmendem Maße domestiziert worden sei. Nachdem die Europäer sich zivilisiert hätten, bezogen sie auch die »Primitiven« in den Zivilisierungsprozeß ein. Duerr legt jedoch dar, daß die »animalische Natur« der Menschen der Antike, des Mittelalters und der sogenannten »primitiven« Gesellschaften keineswegs weniger domestiziert war und ist als jene des modernen Menschen. Schamgefühl ist eine transkulturelle Universalie. Duerr deckt die doppelte Funktion der Eliasschen Zivilisationstheorie auf: Einerseits diente sie der Rechtfertigung der »zivilisierenden Mission« Europas, andererseits konnte sie durch die imaginäre Kontrastfolie der fremden Kulturen als Vehikel der Kritik an der eigenen westlichen Kultur instrumentalisiert werden.
Trotz der bis heute getragenen – mittlerweile weiß gewordenen – schulterlangen Haare kommt der hochgebildete dreifache Familienvater Duerr, der sich zu seiner kurpfälzischen Herkunft bekennt, von der Moderne keine hohe Meinung hat, dennoch vom Spiegel gerne interviewt wird, im persönlichen Umgang angenehm und unprätentiös ist und lieber in die Kneipe als zur Konferenz geht, in Habitus und Werk dem Bild des geradlinigen, geistig unabhängigen Privatgelehrten nahe, für den es im heutigen Wissenschaftsbetrieb an der Gremienuniversität keinen Platz mehr gibt. Er ist das »Muster eines Gelehrten «, wie einmal ein Rezensent schrieb, und »der klassische Konservative, der inzwischen so obsolet geworden ist, daß er gleich wieder die Speerspitze der Avantgarde bildet«. Duerr, der die Idee einer nützlichen Ethnologie, die sich heute im Zeitalter der Drittmitteleinwerbung an den Lehrstühlen weitgehend durchgesetzt hat, »grauenhaft« findet, legt auch mit seinem übrigen Werk Zeugnis von der notwendigen Unzeitgemäßheit von Wissenschaft ab, etwa mit seinen Forschungen über die untergegangene Stadt Rungholt im nordfriesischen Watt (2005) oder über die Spuren einer Fahrt der Minoer in die Nordsee vor etwa 3300 Jahren (2011).
Schriften
- Ni Dieu – ni mètre. Anarchische Bemerkungen zur Bewußtseins- und Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1974.
- Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a. M. 1978.
- Sedna oder die Liebe zum Leben, Frankfurt a. M. 1984.
- Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (5 Bde.), Frankfurt a. M. 1988–2002.
- Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt, Berlin 2005.
- Die Fahrt der Argonauten, Berlin 2011.
Literatur
- Kenneth Anders: Die unvermeidliche Universalgeschichte. Studien über Norbert Elias und das Teleologieproblem, Opladen 2000.
- Interview in der Reihe »Interviews with German Anthropologists«, durchgeführt von Dieter Haller, 9. August 2009 (www.germananthropology.de).
Der Artikel wurde von Thomas Bargatzky verfaßt.