Hannah Arendt

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Arendt, Hannah (eigentlich Johanna),
geb. 14. Oktober 1906 Linden (Hannover),
gest. 4. Dezember 1975 New York.

In einem assimilierten deutsch-jüdischen Elternhaus in Königsberg aufgewachsen, erhielt die sich selbst »das Mädchen aus der Fremde« nennende Arendt ihre wichtigste geistige Prägung durch ihre Marburger und Heidelberger Lehrjahre bei Martin Heidegger und Karl Jaspers. 1933 von den Nationalsozialisten verhaftet, gelang ihr die Flucht zunächst nach Frankreich und sodann in die Vereinigten Staaten, welche der Emigrantin 1951 die Staatsbürgerschaft zuerkannten. Bis zu ihrem Tode lebte und wirkte Arendt als Professorin und Publizistin vorrangig in den USA, nicht ohne immer wieder in ihre vertraute und doch fremd gewordene europäische Heimat zurückzukehren. Obgleich eine emanzipierte und irreligiöse Jüdin, hat Arendt sich stets zu ihrem jüdischen Schicksal als »Paria« bekannt und die ihr Anderssein verleugnenden jüdischen »Parvenüs« als Maskenspieler verachtet.

Hannah Arendt verstand sich als politische Theoretikerin und lehnte den Titel der Philosophin dankend ab, da sie die abendländische Philosophiegeschichte von einer fortschreitenden »Politikvergessen- heit« bestimmt sah. In ihrem gleichwohl philosophischen Hauptwerk, Vita activa (1960), stilisiert sie den Prozeß des Sokrates zum sinnfälligen Ursprung des Konflikts zwischen der untergehenden Polis und der aufstrebenden Philosophie. Die seit Platon in der griechischen Antike zum höchsten Ideal erhobene »vita contemplativa« sollte im christlichen Mittelalter noch eine spiritualistische und antipolitische Übersteigerung erfahren.

Wenn Aristoteles auch das eines freien Mannes einzig würdige »Handeln« gegenüber der sklavischen »Arbeit« und dem handwerklichen »Herstellen« herausgestellt hatte, so zog doch die lateinische Fehlübersetzung des »bios politikos« als »vita socialis« die Entwertung des aktiven politischen Handelns zu einem passiven sozialen Verhalten nach sich, welches es zu normieren und zu kontrollieren galt. Vollends mit dem modernen Triumph der dem Reich der Notwendigkeit verhafteten Arbeit über das gemeinsame Handeln der Freiheit verpflichteter Menschen vollzog sich eine radikale Umwertung der antiken Werthierarchie zwischen »polis« und »oi-kos«. Die Kolonialisierung der politischen Lebenswelt durch ökonomisch determinierte soziale Systeme machte schließlich noch die eigentlich politische Unterscheidüng zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten selbst unkenntlich.

Unter Berufung auf Augustinus, über dessen Liebesbegriff sie promovierte, setzt Arendt dem philosophischen Fluchtpunkt der »Mortalität«, der Endlichkeit des Menschen, das politisch bedeutsamere Faktum seines Geborenseins, seine »Natalität«, entgegen: die Fähigkeit, jederzeit einen Neuanfang setzen zu können, um als freies Wesen gleichsam seine zweite Geburt zu erfahren. So ist Arendts Mensch, gut existentialistisch, zur Freiheit verurteilt, aber diese verwirklicht sich authentisch weder in privaten Hobbys noch in philosophischen Monologen, sondern allein im pluralistischen Miteinander eines perspektivisch offenen Sprechens und spontanen Handelns, welches die »res publica« zur eigenen Sache macht. Historisch erschloß sich der eigenwilligen Schülerin Heideggers dieses Wesen des Politischen exemplarisch in der vom griechischen Geist noch unberührten römischen Republik, und dieses Erbe schienen ihr die republikanischen Nationalstaaten des neuzeitlichen Europa zu bewahren.

»Manchmal frage ich mich, was wohl schwieriger ist, den Deutschen einen Sinn für Politik oder den Amerikanern einen leichten Dunst auch nur von Philosophie beizubringen.«

In ihrem politologischen Hauptwerk, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), hingegen zeichnet Arendt mit phänomenologischem Scharfblick die spätere imperialistische Selbstüberschreitung der europäischen Nationalstaaten sowie die antisemitische und rassistische Selbstzerstörung ihres traditionellen Patriotismus nach. In der Weltkriegsperiode schließlich sah sie die vereinsamten und entwurzelten Individuen der liberalen Massengesell-12 schäften totalitären Bewegungen anheim- fallen, die mit der veralteten Staatsform auch das überflüssig gewordene Menschenmaterial durch Propaganda und Terror einer »permanenten Revolution« unterwarfen. Das Schicksal der Lagerinsassen totaler Herrschaftssysteme, aber auch der Status Staaten- und rechtloser Flüchtlinge offenbarten ihr die epochale Verlassenheit des modernen Menschen und den fiktiven Charakter der universalen Menschenrechte.

Als journalistisches Gegenstück zu ihrer Totalitarismusstudie imponiert der Bericht über Eichmann in Jerusalem (1964). Die Formel von der »Banalität des Bösen«, die sich Arendt durch Eichmanns Auftreten während des Prozesses aufdrängte und die vielfach als dessen Verharmlosung mißverstanden wurde, zielte vielmehr auf das Unfaßbare, daß die schlimmsten Taten gerade von einem Durchschnittsbürokraten ohne alle Dämonie organisiert werden konnten. Als skandalös wurde insbesondere Arendts Hinweis auf die Mittäterschaft der Judenräte bei der Judenvernichtung empfunden, obgleich sich für sie in dieser Perversion nur die zynische Effektivität der totalitären Enthumanisierung selbst zeigte. Auf das Problem des Bösen sollte Arendt noch einmal in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes (1979) zurückkommen, worin sie in sokratischer wie kantischer Tradition zu begründen sucht, daß nur ein Denken mit entwickelter Urteilskraft vor solchem radikal oder banal bösen Handeln bewahren könne.

Nach Maßgabe ihrer politischen und ethischen Ideale mußte Arendt die Apathie und Dekadenz der Massen in den westlichen Arbeits- und Konsumgesellschaften der Nachkriegszeit zunehmend als desillusionierend erfahren, und so suchte sie konsequent nach Mitteln und Wegen zur »Zerschlagung der Massengesellschaft«. Stimmte sie in Vita activa für eine politische Aristokratie elitärer Republikaner, so warb sie in ihrer Studie Über die Revolution (1963) für die direkte Demokratie einer egalitären Räterepublik. Die Originalität ihres antirepräsentativen Demokratiekonzepts erweist sich vor allem darin, daß sich dieses nicht an der durch ihre terroristischen Exzesse kompromittierten französischen Revolution (und deren russischer Fortsetzung) orientiert, sondern an der gewaltlosen amerikanischen Revolution, deren »town hall meetings« von der konstruktiven Idee eines gemeinsamen Neuanfangs bestimmt waren. Entsprechend charakterisiert Arendt die Vereinigten Staaten als »das kühnste Unterfangen der Europäer, den antiken Polisgedanken mit dem revolutionären Gründungsakt einer modernen Republik zu verknüpfen«.

Hannah Arendts politische Philosophie hat zwar nicht schulbildend gewirkt, aber dafür diverse subkutane Wirkungen entfaltet. Ihre Totalitarismustheorie erwarb rasch den Rang eines Klassikers, und ihr Republikanismuskonzept inspirierte die aktuellen Debatten über Kommunitarismus, Bürger- und Zivilgesellschaft. Obgleich sie selbst mit den politischen Kategorien »rechts« und »links« nichts anfangen konnte, läßt sich als genuin konservatives Leitmotiv des Arendtschen Denkens die Wiederherstellung des legitimen Primats des Politischen gegenüber der faktischen Dominanz des Ökonomischen und Sozialen anführen.

Schriften

  • Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955.
  • Vita activa oder Vom tätigen Lehen, Stuttgart 1960.
  • Über die Revolution, München 1963.
  • Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.
  • Vom Leben des Geistes, München 1979.

Literatur

  • Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998.
  • Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 2000.
Der Artikel wurde von Siegfried Gerlich verfaßt.