Geschichte der Deutschen

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Geschichte der Deutschen.
Hellmut Diwald, Frankfurt a. M./Berlin/Wien: Propyläen 1978.

Hellmut Diwalds Geschichte der Deutschen war Teil einer Reihe von politikwissenschaftlichen und historischen Selbstvergewisserungen der deutschen Identität, die Ende der siebziger Jahre erschienen. Dazu gehörte neben Diwalds Werk beispielsweise Hans-Joachim Arndts Entwurf einer »Politologie für Deutsche«, Die Besiegten von 1945 (1978). Diwald betonte wie Arndt die besondere Lage der Deutschen, die für ihn nur aus dem Jahr 1945 verstanden werden konnte, aus der totalen Niederlage, der Vertreibung, der Umerziehung und der Spaltung. Diese Feststellung konnte damals keineswegs mehr als selbstverständlich gelten, da sich die Bundesrepublik, der westdeutsche Nachfolgestaat, zunehmend in einer Geschichtsinterpretation präsentierte, in der Niederlage und Umerziehung bruchlos als Befreiung gedeutet wurden. Die finale Zerstörung Ostdeutschlands durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung erschien als teilweise selbstverschuldetes und abgewickeltes Problem, während die Abspaltung der mitteldeutschen DDR immer mehr als eine Selbstverständlichkeit galt, ebenso wie diejenige Österreichs. Diesem Trend setzte Diwald, damals ein in allen Medien präsenter Historiker und Teil des öffentlichen Lebens der Republik, bewußt das Konzept einer Geschichte aller Deutschen entgegen.

Der Autor machte dabei kein Hehl daraus, geschichtspolitische Absichten zu verfolgen. Ohne Geschichtsbewußtsein gibt es weder eine soziokulturelle noch eine politische Selbstbehauptung, stellt er eingangs fest. Aus diesem Grund muß die Geschichte immer wieder neu geschrieben werden. Seine Geschichte der Deutschen zielte auf die Verwandlung des Geschichtsbewußtseins in der Breite, und er hatte Erfolg damit. Noch im rscheinungsjahr mußten Nachfolgeauflagen gedruckt werden, die 100 000 Exemplare der Erstauflage waren vergriffen. Die Leser fanden ein originelles Konzept vor: Diwald schreibt gegenchronologisch. Er beginnt mit dem »Zeitalter der Großen Kriege« und setzt zeitgenössisch mit der Ostpolitik der siebziger Jahre an. In acht weiteren, jeweils etwa gleich gewichteten Großabschnitten geht er zeitlich immer weiter zurück und läßt das Buch schließlich mit der Reichsgründung durch Heinrich I. ausklingen. Die Deutschen treten hier also mit ihrer Staatsgründung als Subjekt in die Geschichte ein. Ihre Vorgeschichte behandelt Diwald nicht, setzt aber die Existenz der Deutschen als Bedingung für die Staatsgründung voraus. Damit bindet er implizit die Legitimität jedweder deutschen Staatsverfassung an den Volkswillen.

Für seinen ungewöhnlichen Zugriff aus der Gegenwart in die Vergangenheit gab Diwald drei Begründungen. Zum einen seien die jeweils neuesten Ereignisse wirkungsmächtiger als weiter zurückliegende, zum zweiten ließen sich innere Zusammenhänge, aber auch Brüche in der Geschichte auf diese Weise leichter nachvollziehen. Zum dritten aber, sei so mit dem verbreiteten Vorurteil von der Geschichte als kausalem Zusammenhang früherer mit späteren Ereignissen aufzuräumen.

Der letzte Punkt war Diwald besonders wichtig. Das aus seiner Sicht anzustrebende Bewußtsein von der »Geschichte der Deutschen« sollte neben der Hochachtung vor der Größe des Geschehens vor allem auch einen Eindruck von dessen Zufälligkeit enthalten. Nichts an der Geschichte war demnach vorherbestimmt oder zwangsläufig. Die zeitgenössische Rezeption der Fachkollegen verstand dies wohl richtig als ebenso subtile wie substantielle Absage an alle Thesen von deutschen Sonderwegen und angeblichen Kontinuitäten von Luther bis Hitler.

»Heinrichs I. Gemahlin Mathilde, Tochter des Herzogs Widukind, faßte am Totenbett des Königs eine Einsicht in Worte, die wesentliches aus der Geschichte anklingen läßt: Keine Lehren, keine Erkenntnisse, die von den Fakten, den Leiden, den Tumulten abgehoben sind, sondern etwas, das zum Geschehen selbst gehört, zum flackernden Ereignis genauso wie zu seinem Ende – daß nämlich Resignation ebenso ein Prinzip unser aller Selbstgewißheit ist wie die Verachtung dieser Resignation.«

Daher rief das Buch, trotz oder wegen seines großen Erfolgs, Diwalds Gegner auf den Plan. Es war von verstecktem Revisionismus die Rede. Diese Kritik fand schließlich auf ganz zeittypische Weise polemischen Nährboden an manchen Passagen über die nationalsozialistische Judenverfolgung und den Genozid. Dabei spielte eine Rolle, daß die Geschichte der Deutschen gerade in einer Phase erschienen war, als der Holocaust als Begriff eine zentrale Stelle im bundesdeutschen Geschichtsbewußtsein einzunehmen begann. Die gleichnamige vierteilige Fernsehserie markierte hier zum Jahresanfang 1979 einen Quantensprung. Diwald fühlte sich daher durch öffentlichen Druck gezwungen, in den Folgeauflagen einige Passagen zu diesem Thema zu ändern, ohne seiner Meinung nach in der Sache unrecht gehabt zu haben. Er verteidigte sich gegen die Kritik in einem eigenen Band mit dem Titel: Mut zur Geschichte (1979). Dieser Vorgang gegenüber einem prominenten und fachlich geachteten Hochschullehrer symbolisierte einen erheblichen Stimmungswandel, dem im weiteren Verlauf auch Diwalds bis dahin unumstrittene Position in Funk und Fernsehen zum Opfer fiel. Deutsche Geschichte wurde dort in der Folge immer häufiger als Medium einfacher Zusammenhänge und klarer moralischer Botschaften präsentiert, das nicht dem Bewußtsein entsprach, das Diwald erreichen wollte.

Ausgabe

  • München: Bechtle 1999 (fortgeschriebenvon Karlheinz Weißmann).
Der Artikel wurde von Stefan Scheil verfaßt.