Führung

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
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Führung. Rede, öffentlich gehalten in Bremen am 2. Januar 1931,
Rudolf Borchardt, München: Georg Müller 1931.

Der deutsch-jüdische Autor Rudolf Borchardt, der seit 1903 mit wenigen Unterbrechungen in Italien lebte, begriff sein gewaltiges schriftstellerisches Lebenswerk (unvollständige Werkausgabe in 14 Bänden, 1955–2003) als »nationale Sendung « und »Wiederherstellung der deutschen Tradition«. Gegen ihren drohenden unwiederbringlichen Verlust kämpfte er durch Erneuerung und Nacherleben, Aneignung und Weitertragen der in Antike und Christentum gründenden deutschen Poesie, in der er, weder Nationalist noch Rassist und daher ein scharfer Gegner des Nationalsozialismus, das eigentlich Nationale als Haltung und geistigen Gehalt in der Nachfolge Herders und Goethes entdeckte. In allen literarischen Gattungen realisierte Borchardt sein Programm der »schöpferischen Restauration « und machte es nicht zuletzt in einer Reihe von 1902 bis Anfang der dreißiger Jahre gehaltener großer Vorträge öffentlich bekannt.

In seiner flammenden Rede über Führung greift er eines der Grundprobleme der Weimarer Epoche auf, die Frage, wie es 1918 zu militärischer Niederlage, Versailles und Revolution habe kommen können. Borchardt widerspricht der damals verbreiteten These, es habe an mangelnder politischer Führung gelegen: »Wir waren keine führerlose Nation. Wir waren keine Nation.« Da Führung »ein Attribut nicht in erster Linie des Führers« ist, sondern ein »Attribut des Geführten«, gehe auch der immer lauter werdende »Schrei nach dem Führer« in die Irre. Ein Volk könne sich nur selbst retten, »von innen her«, indem es durch die Arbeit an seinen nationalen historischen Beständen sein moralisches Selbstbewußtsein erneuert: »Zuerst Schiff und Mannschaft, dann Steuer und Führung, es gibt kein Entweichen. « Die »Verheerung der Gewissen, der Seelen und der Kräfte« könne nur »durch harte Schulen« überwunden werden (Hölderlin: »Mit ihrem heiligen Wetterschlage / Die Not …«), mit dem Ziel einer »Durchsättigung des nationalen Ganzen mit Ordnungsatom, die aus jeder nationalen Zelle ein mikroskopisches Abbild des Systems schafft«. Dieser Aufgabe stehe jedoch das »Schlaraffenland liberaldemokratischer Utopien«, stünden »breitgetretene Massenfederweisheit «, »Fastnachtsfreiheiten« und die »Irrlehre vom industriellen Zeitalter und dem der Technik« entgegen. Treubruch und Verrat am nationalen Erbe, Ordnungsflucht und Ordnungsbruch könnten nur durch eine tiefgreifende und schmerzhafte Umkehr geheilt werden. Erst dann könne »Autorität, das stumm wirkende Ansehen einer Regierungsgewalt, das aus tiefster Einmütigkeit eines nationalen Ganzen« geboren wird, »römisch gesprochen Imperium«, wie ein Magnet aus den disparaten Teilen wieder ein geordnetes Ganzes formen; erst dann werde Führung zu Führung und könnten, gestärkt durch die wiedergefundenen Wurzelgründe des nationalen Daseins, »die Ordnungen der sittlichen und der gesellschaftlichen Welt jedem ihrer Zugehörigen so völlig in Fleisch und Blut« übergehen, »daß er seine Bürger-Rechte instinktiv nur als ergänzende Funktionen seiner Bürger-Pflichten« empfindet, daß mithin »das Ganze, dem jeder dient, ein gehobenes Sinnbild seines eigenen Innern « würde.

»Die ganze Welt wird reißend konservativ.«

Rudolf Borchardt zählt zu den größten Autoren des 20. Jahrhunderts und ist doch wie keiner von ihnen der Nichtachtung verfallen und heute im öffentlichen Gespräch fast völlig vergessen. Dabei sind seine Zeitdiagnose wie seine grundsätzliche Modernitätskritik von anhaltender und geradezu bestürzender Aktualität – und müssen deswegen von der herrschenden Meinung umso mehr verdrängt werden. »Drei Stunden Hölderlin oder Borchardt gelesen, besehen, erkundigt, und es füllt sich das Gedächtnis aus allen seinen Höhlen …, der Appetit auf Gestalt und Form wird unbezwinglich … Es ist ein wirksames Tonikum gegen die mangelnde Durchblutung von Vergangenheit in unserem Befinden.« (Botho Strauß)

Ausgabe

  • Gesammelte Werke. Reden, Stuttgart: Klett- Cotta 21998, S. 397-429.

Literatur

  • Heinz Ludwig Arnold/Gerhard Schuster (Hrsg.): Rudolf Borchardt, München 2007.
  • Botho Strauß: Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt, in: ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien 1999.
Der Artikel wurde von Michael Stahl verfaßt.