Eunomia

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Eunomia (griech.: Wohlgesetzlichkeit).
Solon von Athen, Anfang 6. Jh. v. Chr.

Das politische Denken, verstanden als Reflexion über Voraussetzungen, Grundlagen und Prinzipien eines auf den Bürger gestellten Gemeinwesens, ist im frühen Griechenland entstanden. Unsere ersten Zeugnisse bilden, nach Ansätzen bei Homer, die zumeist fragmentarisch überlieferten Poeme von Dichtern und Philosophen des ausgehenden 7. und des 6. Jhs. v. Chr. Unter ihnen ragt, aufgrund seines reichen gedanklichen Gehalts, ein fast vollständig erhaltenes Gedicht des Solon von Athen heraus, zu datieren in das erste Viertel des 6. Jhs. v. Chr.

Die 39 Verse dieses Gedichts entwickeln einen klar erkennbaren und gegliederten Gedankengang. Solon richtet sich an seine athenischen Mitbürger in einer tiefen Krisensituation ihres Gemeinwesens, klärt sie über die Ursachen auf und weist ihnen den Weg in eine bessere Zukunft. Als erstes betont er, daß für die der Stadt widerfahrenden Übel der um sich greifenden Unfreiheit, des inneren Unfriedens und Kriegs nicht die Götter, sondern die Bürger selbst verantwortlich sind. Überheblichkeit und zügellose materielle Gier der Aristokraten, die auch vor dem Allgemeingut nicht haltmachen, gepaart mit dem unüberlegten Mittun vieler Bürger, fügen dem Gemeinwesen als Ganzem eine ständig schwärende Wunde zu. Niemand kann sich vor diesem Unglück in sein Eigenes zurückziehen, selbst im hintersten Winkel seines Schlafgemachs sucht es ihn heim. Solon mahnt daher die Athener zu einem einschneidenden Wandel in ihrem Verhalten, nur so kann die Krise durch Wohlgesetzlichkeit überwunden werden.

Vor allem drei Beobachtungen lassen Solons Text zum Beginn der politischen Theorie in Europa werden. Solon versteht das beobachtete Geschehen zum ersten Mal ausschließlich als einen innerweltlichen Vorgang, der ohne die Annahme göttlicher Eingriffe rational erklärt werden kann (V. 1–5). Die Krise vollzieht sich nach einer nur in ihr selbst liegenden Gesetzlichkeit, die im Verlauf der Geschichte zum Tragen kommt (V. 16). Damit werden die Bürger im Hinblick auf ihr Gemeinwesen zu rationaler Analyse und Prognose befähigt. Zu Solons Erkenntnissen gehört zweitens, daß in einem Staat der Bürger die öffentlichen Angelegenheiten jeden einzelnen existentiell betreffen. Eine »Ohne mich«-Haltung ist nicht nur schädlich, sondern letztlich nur Selbsttäuschung (V. 26–29). Zur Wende und zu einer stabilen Wohlordnung kommt es deshalb erst, wenn jeder einzelne Bürger die sein Verhalten bestimmenden Werte und Ideale auf das Ganze des Gemeinwesens ausrichtet. Diese Revolution hin zu einer bürgerlichen, politischen Ethik bedarf – das ist Solons bleibende dritte Einsicht – einer Begründung in tieferen Schichten der menschlichen Psyche. Bürgertugend muß zu einem Habitus werden. Solon selbst benennt sein Innerstes (griechisch: thymos) als Antrieb seines Lehrens (V. 30).

»Sie selbst aber wollen die mächtige Stadt durch ihre Torheit verderben, die Bürger …«

Solons Forderung nach einer politischen Ethik führt unmittelbar zu einer politischen Kernforderung der Gegenwart: daß eine Ordnung der Freiheit nicht lebensfähig ist ohne den verantwortungsbewußten Gemeinsinn ihrer Bürger und daß – wie im alten Athen – dafür nicht zuletzt deren affektive Potentiale in vielfältiger Weise zu mobilisieren sind.

Ausgabe

  • griechisch: Bruno Gentili/Carolus Prato (Ed.): Poetarum Elegiacorum Testimonia et Fragmenta. Pars Prior, Leipzig: Teubner 1988, F 3, S. 102–105.
  • deutsch: Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Archaische Periode, hrsg. v. Joachim Latacz, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1991, S. 197–201.

Literatur

  • Werner Jaeger: Solons Eunomie, Berlin 1926.
  • Michael Stahl: Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Archaische Zeit, Paderborn 2003, S. 244–251.
  • Michael Stahl: Solon F 3D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens, in: Gymnasium 99 (1992), S. 385–408.
Der Artikel wurde von Michael Stahl verfaßt.