Die Auflösung aller Dinge

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Die Auflösung aller Dinge. Zur geschichtlichen Lage des Judentums in den Metamorphosen der Moderne,
Hans-Dietrich Sander, München: Castel del Monte [1988].

Seit den späten sechziger Jahren geriet Sander, der bis dahin für die Welt tätig gewesen war, durch seine sich verschärfende nationale Positionierung und seine radikale Kompromißlosigkeit zunehmend ins publizistische Abseits. Die Auflösung aller Dinge, ein Resultat dieser Radikalisierung, ist Sanders schärfstes und kontroversestes Werk und gilt mit gutem Grund als »heißes Eisen«: Als erster ernstzunehmender Autor nach 1945 wagte er es, den »Rubikon« (Jürgen Habermas) einer kritischen Neusichtung der »deutsch-jüdischen Frage« zu überschreiten, in Form einer geschliffenen »Streitschrift« unter den »Gesichtspunkten der politischen Eschatologie « und als »chromatische Fantasie nach einem Thema von Walter Benjamin und Otto Weininger«. Zugleich ist das Buch eine fundamentale Widerrede gegen den hybriden Anspruch des Liberalismus, »eine bessere Welt, als es je eine gegeben hat« (Karl Popper), geschaffen zu haben.

Ausgangspunkt waren einerseits die Corrolarien zur »Ortlosigkeit« im Marxismus und Judentum aus der zweiten Auflage von Sanders unter Hans-Joachim Schoeps angefertigter Doktorarbeit Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie (1975), andererseits eine als Faksimile dokumentierte Auseinandersetzung mit dem Judaisten Jacob Taubes, der Einspruch gegen Sanders Aufsatz »Von der geistigen Knechtschaft der Deutschen und ihrer möglichen Aufhebung« (1980) erhoben hatte.

Im Zentrum der »Metamorphosen der Moderne« sieht Sander die »Entortung« des Denkens, die zu fortschreitenden Abstrahierungen und Rationalisierungen führte, an deren Endpunkt der Verfall des Politischen, der Transzendenz, der Kunst, der Philosophie ebenso wie der Tod der Völker und der Umwelt des Menschen, kurz: die »Auflösung aller Dinge« steht. In diesen Prozeß hat laut Sander das Judentum, bedingt durch seine geschichtliche Lage, als Katalysator erheblich eingegriffen. Die spezifisch jüdische »Daseinsweise« der Ortlosigkeit hat die Bindungslosigkeit und den Nomadismus der Moderne vorweggenommen und als utopisches Heilsversprechen propagiert. Dafür exemplarisch steht die Gestalt Walter Benjamins, dessen Werk Sander als verzweifelten Versuch deutet, im Mahlstrom des Nihilismus zu neuen Verortungen – deutscher, jüdischer, französischer, marxistischer Natur – zu finden: der »Totentanz« eines Intellektuellen, an dessen Endstation der »Selbstmord als Quintessenz der Moderne « (Benjamin) stand. Auf der Grundlage der Höhe, »die von der Kritik der Moderne in Deutschland erreicht worden war«, müßten auch der »Antisemitismus« und das »Dritte Reich« beurteilt werden: »Das Dritte Reich war ein Versuch, die Krisen der Moderne mit richtigen und falschen Mitteln aufzuheben.« In zehn kompakten Thesen faßt Sander die Gründe und die Folgen seines Scheiterns zusammen: Die Sieger von 1945 hatten »die Erde in wenigen Jahrzehnten in einen Augiasstall verwandelt «, ihr Triumph »war ein Triumph der alten Mächte des Liberalismus und des Sozialismus «. »Er löste keines der wesentlichen Probleme. Er verschärfte jedes.« Für die Deutschen hatte die völlige Unterwerfung unter das Weltbild der Siegermächte die »Selbstentortung am Ort«, ihre elementare geistige und politische Selbstaufgabe zur Folge, sowie als böse Ironie der Geschichte die pathologische »Imitatio AhasvKursiver Texteri«, in der sich alle Symptome des von Theodor Lessing beschriebenen »jüdischen Selbsthasses « nun auch in der deutschen Seele bemerkbar machten. Dagegen ruft Sander dazu auf, die »Subalternitäten zu beseitigen, die unsere Vita contemplativa und unsere Vita activa wie Mehltau befallen haben«.

»Die Verfallsprozesse der Moderne lassen sich durchweg antäisch erklären. Sie gehen auf eine unnatürliche Störung des Raumgefühls zurück, die den Impetus der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis zerstreut und die Energien der Selbstbehauptung zerreibt.«

Die Auflösung aller Dinge wurde nach ihrem Erscheinen weitgehend totgeschwiegen, eine Auseinandersetzung mit Sanders Thesen fand nur innerhalb kleiner Kreise statt. Dort hat das Buch jedoch eine andauernde subkutane Wirkung entfaltet und wurde zum Geheimtip.

Literatur

  • Hartmut Lange: Existenz und Moderne. Über Selbsterkenntnis und Solidarität, in: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hrsg.): Die selbstbewußte Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a. M./ Berlin 1994.
Der Artikel wurde von Martin Lichtmesz verfaßt.