Der Aufstand der Massen

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Der Aufstand der Massen (span. La rebelión de las masas, Madrid 1929).
José Ortega y Gasset, Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlagsanstalt [1931].
José Ortega y Gasset bei den „Darmstädter Gesprächen“ (1951)

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein Massenzeitalter zu erkennen, war für die europäischen Intellektuellen dieser Zeit kein Problem. Zu deutlich hatten sich die Auswirkungen von Industrialisierung und Bevölkerungsvermehrung überall niedergeschlagen. Dem spanischen Philosophen José Ortega y Gasset gelang jedoch mehr als die eingehende Analyse der neu auftauchenden Massenorganisationen. Sein Werk Der Aufstand der Massen setzte eine wichtige Akzentverschiebung, indem es das Phänomen der Masse nicht allein in der »Tatsache der Überfüllung« sucht, sondern den gleichgültigen Durchschnittsmenschen ins Auge faßt.

Ortega y Gasset, stark durch Friedrich Nietzsche und die Psychoanalyse Sigmund Freunds geprägt, denkt die Ansätze der Massenpsychologie und -soziologie von Gustave le Bon und Robert Michels konsequent weiter und wendet sie auf das Individuum an. Der Massenmensch ist dadurch gekennzeichnet, daß er sich vollkommen fühlt und »keine Ehrfurcht vor gewissen Grundwahrheiten« mehr hat. Er wähnt sich der Vergangenheit überlegen und mißachtet die sittlichen Normen seiner Vorfahren. Der Staat wird unter der Regie der Masse zu einer Maschine, die sich in alle Lebensbereiche einmischt und die schöpferische Minorität unterdrückt. Das Problem der Vermassung sieht Ortega y Gasset nicht auf die Unter- und Mittelschichten beschränkt. Bemerkenswerterweise sieht er in einem Kapitel über die »Barbarei des Spezialistentums « den Wissenschaftler als »das Urbild des Massenmenschen«.

Als Kehrseite des Aufstandes der Massen bezeichnet der habituell aristokratische Kulturphilosoph Ortega y Gasset die »Fahnenflucht der Eliten«. Dies ist auch der Grund, warum das Werk seine Leser relativ hoffnungslos zurückläßt. Als einzigen Ausweg aus der Misere des Massenzeitalters und drohender Barbareien sieht Ortega y Gasset die gemeinsame Aufgabe zur Schöpfung eines europäischen Nationalstaates, der den sittlichen Verfall des Abendlandes aufhalten soll. Diese Idee konkretisiert er jedoch nicht weiter.

»Der heutige Staat und die Masse stimmen nur darin überein, daß beide anonym sind. Aber da der Massenmensch tatsächlich glaubt, er sei der Staat, wird er in immer wachsendem Maße dazu neigen, ihn unter beliebigen Vorwänden in Tätigkeit zu setzen, um so jede schöpferische Minorität zu unterdrücken, die ihn stört, ihn auf irgendeinem Gebiet stört – in der Politik, der Wissenschaft, der Industrie.«

Peter R. Hofstätter kritisierte in seinem Werk Gruppendynamik (1957), daß le Bon und Ortega y Gasset die »leistungsmäßige Überlegenheit der Gruppe« ignorieren würden. Nur wenn eine Gruppe infolge einer Panik ihre Struktur verliere, könne man von einer Masse sprechen. Ansonsten ergebe sich aus Gruppen, die durch Hierarchien geprägt sind, prinzipiell eine Dynamik, die einen Vorteil für alle gegenüber dem isolierten Einzelnen bringe.

Der Aufstand der Massen hat sich trotzdem als ein Standardwerk der Massensoziologie etabliert. Insbesondere in Deutschland und Lateinamerika hat es große Beachtung erfahren, der »Massenmensch « wurde zum festen Begriff. Dieses Interesse flaute in den letzten Jahrzehnten spürbar ab, da die Masse nicht mehr in großen Verbänden anzutreffen ist. Gerade Ortega y Gassets Charakterisierung des Massenmenschen bietet dabei aber den Schlüssel, um die habituellen Eigenschaften der Masse auch beim einzelnen weiterhin erfassen zu können.

Ausgabe

  • Mit einem Nachwort von Michael Stürmer, München: DVA 2002.

Literatur

  • Andrew Dobson: An Introduction to the Politics and Philosophy of José Ortega y Gasset, Cambridge 1991.
Der Artikel wurde von Felix Menzel verfaßt.