Entfremdung

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Entfremdung wird fast nur als Begriff der marxistischen Ideologie gesehen, die die Situation des Menschen grundsätzlich als »entfremdet« auffaßt, sobald der gezwungen ist, sich Produktionsprozessen zu unterwerfen, die er nicht selbst bestimmen kann. Allerdings handelt es sich in bezug auf den Begriff (und auch in bezug auf die entscheidende Denkfigur) um eine Übernahme aus der idealistischen Tradition, die ihrerseits alle Hervorbringungen des Geistes als »entfremdet« ansah und dem Menschen seine durch Entfremdung verlorene Freiheit mittels Wiederaneignung zurückzugeben trachtete.

»Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind entfremdet dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Verstockung ihres Herzens.«

Paulus

In diesem Zusammenhang wird immerhin deutlicher als im marxistischen, daß es sich im Ursprung um einen theologischen Begriff handelte. Für Augustinus etwa bedeutete Entfremdung zuerst und vor allem Selbst-Entfremdung, das heißt Entfremdung von Gott durch die Sünde. Alles, was der Mensch sonst noch als Entfremdung wahrnehme, erkläre sich aus dieser gestörten Grundbeziehung, die von seiten des Menschen nicht korrigiert werden könne, sondern nur aufgehoben in Gottes erlösender Tat.

»Denkt man nämlich den Menschen (und dazu besteht guter Grund) als ein Wesen, das voller Impulse und Reaktionsbereitschaften steckt, das zwar immer von Institutionen eingehegt, gehalten und determiniert war, aber von ihnen auch immer mit Inhalten und Antrieben erfüllt worden ist, so hätten wir hier, im Modell »sekundärer Systeme«, einen Menschen vor uns, der insofern sein Menschentum verloren hat, jedenfalls ihm stark entfremdet ist.«

Dieser skeptischen Grundeinschätzung folgt der Konservatismus, insofern er keine vollständige Beseitigung von Entfremdung für möglich erachtet. Seine Skepsis gegenüber den Versprechungen der Linken wie der Liberalen resultiert aus der Einsicht in den utopischen Charakter ihrer Postulate. Die Bedingungen menschlicher Existenz erlauben keine absolute Selbstbestimmung; so sehr die Wahrnehmung von Entfremdung schmerzen mag, sie ist nicht vollständig zu beseitigen, und Versuche, das doch zu tun, schlagen regelmäßig in ihr Gegenteil um.

Allerdings geht nur eine Minderheit der konservativen Theoretiker – gemeint sind in erster Linie Arnold Gehlen und Hanno Kesting – so weit, die Entfremdung grundsätzlich als wohltuend zu betrachten, das heißt vom Vorrang der Institutionen in der Weise auszugehen, daß allein »die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung« behauptet werden könne. Freiheit ist nach diesem Verständnis überhaupt bloß möglich, soweit sie mit den Existenzbedingungen der Institutionen vereinbar bleibt.

Was dabei aus dem Blick zu geraten droht, ist das Ausmaß des formierenden Zwangs, den die Institutionen in der technischen Zivilisation ausüben. Hans Freyer hat in seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters jedenfalls darauf aufmerksam gemacht, daß die älteren Formen menschlicher Vergemeinschaftung – »rationale Gebilde auf gewachsenem Grund« – immer stärker abgelöst würden durch übermächtige »sekundäre Systeme«, die nicht nur einen ungeheuren Disziplinierungsdruck auf den Menschen ausübten, sondern auch eine innere Verödung förderten, die historisch ohne Beispiel sei.

Alle Formen konservativer Kulturkritik – nicht zuletzt die Ansätze konservativer Ökologiekritik (Umwelt) – speisen sich aus dieser Wahrnehmung. Sie setzen mindestens voraus, daß es verschiedene Maße der Entfremdung gibt und daß durchaus die Möglichkeit besteht, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Bedingungen von Entfremdung angemessener gestaltet wären als in den gegenwärtigen.

Literatur