Öffentliche Meinung

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Ein englisches Kaffeehaus Ende des 17. Jahrhunderts

Öffentliche Meinung ist ein Begriff, der häufig konservativer Kritik unterliegt, aber seinerseits konservativen Ursprungs ist. Als public opinion bezeichnete der Tory-Führer Bolingbroke zu Beginn des 18. Jahrhunderts die »wahre Meinung des Volkes«, die er zur Rechtfertigung seines Kampfes gegen das parlamentarische Whig-Regime ins Spiel brachte. Bolingbroke versuchte auch schon durch publizistische Mittel und Propaganda Einfluß auf Entstehung und Ausrichtung dieser Ö. M. zu nehmen, womit er dem paradoxen Sachverhalt Rechnung trug, daß die Ö. M. einerseits als gegebene Größe gilt – etwa im Sinn einer Tiefenschicht allgemeiner Überzeugungen, Mentalität, »gesundes Volksempfinden« etc. –, die andererseits unfähig ist, sich selbst zum Ausdruck zu bringen oder dabei eine Kanalisierung erfährt, die sie der volonté générale (teilweise) entfremdet.

»In der öffentlichen Meinung ist alles falsch und wahr, aber das Wahre in ihr zu finden, ist die Sache des großen Mannes.«

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Zweifellos gab es das Phänomen Ö. M. in jeder Gesellschaft und spielte sie gerade wegen ihrer Latenz eine wichtige Rolle bei sozialer Kontrolle und Disziplinierung, aber erst in Vorbereitung der Französischen Revolution kam der Berufung auf die Ö. M. jene legitimierende Funktion zu, die sich dann im 19. Jahrhundert durchsetzte, mit der Entwicklung des Zeitungswesens, wachsender Kommunikationsdichte und Demokratisierung. Jetzt erst konnten sie Beobachter als heimliche »Großmacht« oder als »vierte Gewalt« auffassen.

An der grundsätzlichen Unklarheit über das Wesen der Ö. M. änderte das aber nichts, eher im Gegenteil. Denn der Zerfall der älteren Gesellschaftsordnung führte zu massenhafter Verunsicherung der Menschen, die sich mit ihren Überzeugungen immer weniger an überlieferten Vorstellungen orientierten und für Manipulationen anfälliger wurden. Trotzdem wird man sich hüten müssen, das Vorhandensein einer Ö. M. einfach als Fiktion anzusehen. Ferdinand Tönnies hat stattdessen vom Nebeneinander einer »unartikulierten« Ö. M. – einem »Konglomerat mannigfacher und widersprechender Ansichten« – und einer »artikulierten« – als »einheitlicher Potenz, als Ausdruck gemeinsamen Willens« – gesprochen.

»Heute läßt sich nachweisen, daß Menschen auch dann, wenn sie hellwach sehen, daß ein Weg falsch ist, doch in Schweigen verfallen, wenn sie sich mit Reden isolieren würden, wenn nämlich die öffentliche Meinung – Meinungen und Verhaltensweisen, die man öffentlich zeigen kann, ohne sich zu isolieren –, wenn also der allgemeine Konsens, was guter Geschmack und was die moralisch richtige Ansicht ist, dagegensteht.«

Elisabeth Noelle-Neumann

In der politischen Praxis bleibt jedoch das Problem, wie sich die Artikulation der Ö. M. selbständig vollziehen kann. Der Hinweis auf die Verführbarkeit, den Irrationalismus und die Schlagwortanfälligkeit der Öffentlichkeit weckt regelmäßig den Wunsch, die Ö. M. als Ganze zu ignorieren oder ein vollständiges System zu deren Beherrschung zu entwickeln. Das 20. Jahrhundert ist auf diesem Weg sehr weit gekommen. Allerdings kann von einer totalen Kontrolle nicht einmal unter den Bedingungen eines totalitären Regimes die Rede sein. Das zeigt sich noch an jeder oppositionellen Regung, die Unterstützung findet, jeder Revolution, jeder »Wende«, jedem Populismus und jedem Umschwung des Zeitgeistes.

Derartige Vorgänge werden auch dadurch bewirkt, daß die Ö. M., soweit sie »veröffentlichte Meinung« ist, niemals flächendeckend wirken kann und niemals alle unterschwelligen Strömungen des Kollektivbewußtseins zu erfassen vermag. Selbst wenn es gelungen ist, die Verfechter abweichender Anschauungen zu isolieren und zu diskreditieren, so daß sie sich dem Diktat der »Schweigespirale« (Elisabeth Noelle-Neumann) unterwerfen, hat das noch nie deren vollständiges Verschwinden bewirken können. Es gibt regelmäßig Widerstandszentren, die die »kulturelle Hegemonie« (Metapolitik) nicht akzeptieren und – wirkungslos oder wirkungsvoll – Weltanschauungen verfechten, die ihrerseits Anspruch erheben, die Ö. M. zu repräsentieren und zu beeinflussen.

Literatur

  • Wilhelm Bauer: Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen [1914], zuletzt Aalen 1981.
  • Hans Domizlaff: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens [1939], zuletzt Frankfurt a.M. 2005.
  • Hanno Kesting: Öffentlichkeit und Propaganda. Zur Theorie der öffentlichen Meinung [1966], zuletzt Bruchsal 1995.
  • Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale [1980], zuletzt München 2001.
  • Ferdi­nand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung [1922], zuletzt Saarbrücken 2006.