Pluralismus
Pluralismus bezeichnet eine Theorie, die davon ausgeht, daß in modernen Gesellschaften ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Lebensentwürfe und politischer Kräfte gegeben ist und durch den Staat toleriert werden sollte. Die dem zugrunde liegende Vorstellung ist mit konservativen Auffassungen grundsätzlich gut vereinbar, soweit es um die Bewahrung einer lebendigen Vielfalt im Rahmen einer höheren Einheit geht. Theoretiker wie Otto von Gierke oder Othmar Spann könnten durchaus als konservative Verfechter des Pluralismus betrachtet werden.
»Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andere.«
Allerdings hatte Harold J. Laski, der eigentliche Vater der modernen Pluralismustheorie, grundsätzlich andere Vorstellungen. Seiner Meinung nach ist die Geschichte dem Gesetz des Fortschritts unterworfen. Dem entspreche die Herausbildung der pluralistischen Gesellschaft, die ein immer höheres Maß an Individualisierung der Menschen fördere. Sie entstehe auf demokratischem Weg, habe aber nur Berechtigung, insofern, sie der beschriebenen Aufwärtsbewegung diene. Das bedeutet auch, daß Kräfte, die dem »Fortschritt« entgegenstehen, kein Recht auf Duldung im Namen des Pluralismus in Anspruch nehmen können. Konsequenterweise sagte sich Laski vom Pluralismus in dem Augenblick los, als deutlich wurde, daß er der Linken nicht automatisch und dauerhaft zur Macht verhelfen würde.
»Erstarren die Gruppen und Parteien zu einer Fassade, hinter denen sich nichts anderes verbirgt als das Machtstreben der Bürokratien, der Partei- und Gruppenapparate, dann verwandelt sich die pluralistisch-demokratische Gesellschaft in eine Masse isolierter Individuen, deren politisches Denken durch die Massenkommunikationsmittel uniform gebildet wird und deren politische Reaktionen unschwer mit Hilfe demoskopischer Untersuchungen ermittelt werden können. Die innere Aushöhlung der autonomen Gruppen und Parteien muß dazu führen, daß der Massenwille mechanisch dirigiert und die Reaktion auf diese Direktiven mechanisch registriert werden kann.«
Anders als Laski haben spätere Theoretiker nicht mehr behauptet, daß der Pluralismus ohne ein integrierendes Moment auskomme und praktisch wie von selbst zu einer Art Gleichgewichtszustand führe. Allerdings hofften sie, daß der Staat nur einen Rahmen für das Widerspiel der Kräfte bilden und sich mehr oder weniger mit der Rolle des Schiedsrichters begnügen werde. Falls diese Art von Repristination des klassischen Liberalismus nicht gelinge, so Ernst Fraenkel, der Begründer des »Neopluralismus«, drohe ein Zustand, in dem Pluralismus nur als Feigenblatt für ein abgekartetes Spiel diene und die scheinbare Toleranz und Duldungsbereitschaft lediglich ein abgefeimtes System des Machterhalts kaschiere.
Angesichts der Tatsache, daß die modernen westlichen Gesellschaften diesem Zustand mittlerweile sehr nahe gekommen sind, gewinnt die Frage an Bedeutung, ob nicht auf die ältere – vor allem von Carl Schmitt formulierte – Pluralismuskritik zurückzugreifen wäre, die allerdings immer die Annahme vertrat, daß der Pluralismus überhaupt zum Zerfall des Staates als politischer Einheit führen werde und anders als in der Staatenwelt – der der Pluralismus natürlich sei – ein Pluralismus innerhalb der politischen Gemeinschaft den Bürgerkrieg vorbereite.
Literatur
- Hermann Heller: Staatslehre als politische Wissenschaft, Gesammelte Werke, Bd 3 [1971], zuletzt Tübingen 1992.
- Ulrich Matz (Hrsg.): Grundprobleme der Demokratie, Wege der Forschung, Bd CXLI, Darmstadt 1973.
- Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen [1932], zuletzt Berlin 2002.
- Thor von Waldstein: Der Beutewert des Staates. Carl Schmitt und der Pluralismus, Graz 2008.