Nebra und Goseck

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
(Weitergeleitet von Nebra)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Sachsen-Anhalt

Vielleicht hat nichts so sehr das Bewußtsein für die Bedeutung der deutschen Vorgeschichte geschärft wie die Himmelsscheibe von Nebra. Sieht man von den an sich schon sensationellen Umständen des Fundes ab, der Raubgrabung, der abenteuerlichen Camouflage bei der Sicherung durch die staatlichen Stellen und dem fortdauernden Streit über Echtheit oder Fälschung, bleibt in erster Linie und unbestritten ein einmaliges Artefakt: mehr als dreieinhalb Jahrtausende alt, geschmiedet aus Bronze, kreisrund, 32 Zentimeter im Durchmesser, fast einen halben Zentimeter stark, darauf eingelegt kleinere und größere goldene Kreise, die Sterne – deutlich erkennbar das Sternbild der Pleiaden – und die Sonne darstellen, eine Mondsichel und zwei Kreissegmente, von denen eins die »Himmelsbarke« darstellen könnte.

Es besteht heute weitgehende Einigkeit, daß die Himmelsscheibe ursprünglich der Kalenderbestimmung diente, mehrfach verändert und schließlich zusammen mit einem Hort rituell bestattet wurde. Als wahrscheinlicher Grund dafür wird die Veränderung von religiösen Vorstellungen genannt, die möglicherweise mit Klimawandel und dem Ende der Blüte des Bronzezeitalters im mitteldeutschen Raum zusammenhingen. Fest steht jedenfalls, daß hier schon um 2000 v. Chr. ein außerordentliches zivilisatorisches Niveau erreicht war, dessen Reichtum sich vor allem in den sogenannten »Prachtgräbern« spiegelte. Daß damit nicht nur eine Differenzierung der Gesellschaft einherging, sondern auch die Zunahme von Kontakten zu anderen Zentren der Bronzezeit, vor allem an den Mittelmeerküsten, aber auch in Skandinavien, belegt die Himmelsscheibe auf einmalige Weise. Denn die Kontakte führten nicht nur zum Austausch von Handelsgütern, sondern auch von religiösen oder allgemeiner: geistigen Vorstellungen, was sich vor allem in der Entwicklung gemeinsamer Symbolsysteme niederschlug. Insofern ist die Himmelsscheibe ein weiterer Beleg dafür, daß Europa bereits in dieser Phase seiner Entwicklung mehr war als eine Art barbarisches Hinterland des Orients. Für die Himmelsscheibe gibt es jedenfalls keine Entsprechungen im Süden oder Osten, sie darf als das älteste Beispiel einer nicht nur sinnbildlichen Darstellung des Firmaments gelten.

Fährt man heute an den Fundort Nebra, einen kleinen Ort am Mittelberg in Sachsen- Anhalt, wird man durch zahllose Hinweisschilder nicht nur zur ehemaligen Ausgrabungsstelle geleitet, sondern auch an ein aufwendiges Besucherzentrum – die »Arche Nebra« – verwiesen, das man wegen seiner goldfarbenen Fassade und seiner futuristischen Gestaltung schon von weitem erkennt. Die Präsentation ist aufwendig, allerdings sehr dem Prinzip des Infotainment verpflichtet, und die Originalstücke sucht man vergebens. Die Himmelsscheibe mit den Beifunden liegt seit dem Abschluß der Restaurierung als zentrales Ausstellungsstück im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale. Wer die Strecke dorthin nicht scheut, sollte auch die Gelegenheit nutzen, um das Sonnenheiligtum von Goseck vor den Toren von Naumburg zu besuchen. Die mittlerweile rekonstruierte Kreisgraben- und Palisadenanlage auf einem Plateau oberhalb der Saale diente wahrscheinlich in erster Linie der Bestimmung und Feier der Wintersonnenwende (mit Hilfe der »Visiere« im Umfassungszaun) und ist schon wegen ihrer Ausdehnung – ein Durchmesser von fast 71 Metern – eindrucksvoll. Wahrscheinlich ist sie etwa 6 900 Jahre alt und wird damit dem Mittelneolithikum zugerechnet. Die Distanz zur Entstehungszeit der Himmelsscheibe ist groß, und sicher haben sich die Lebensumstände für die Menschen dieser Gegend im Lauf der Zeit deutlich verändert. Aber daneben, vielleicht sogar vorherrschend, gab es auch das Moment der Kontinuität: die Verehrung der Sonne als der Verkörperung der Lebenskraft, ihre Vergöttlichung und Feier an den regelmäßig wiederkehrenden Daten des Kalenders.

Entsprechende Vorstellungen sind auch dem modernen Menschen unmittelbar zugänglich, ohne daß er im einzelnen und genau verstehen könnte, was die früheren an Ideen hatten. Sicher bedarf es eines gewissen Quantums Imagination, um eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was die Menschen der Vergangenheit bewegte, aber ganz verschlossen ist ihre Welt auch den Heutigen nicht.

Literatur

  • Andrea Bärnreuther (Hrsg.): Sonne – Brennpunkt der Kulturen der Welt, München 2009.
  • Harald Meller: Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3 600 Jahren, Darmstadt 2004.
Der Artikel wurde von Karlheinz Weißmann verfaßt.