Der Verlust der Tugend
- Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (engl. After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981).
- Alasdair MacIntyre, Frankfurt a. M.: Campus 1987.
Die »moralische Krise der Gegenwart« besteht laut MacIntyre, der als gebürtiger Schotte seit den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten Philosophie lehrt, vor allem in der Verwahrlosung der moralischen Sprache. Die Begriffe, mit denen sie operiert, sind aus dem eigentlichen Zusammenhang, in dem ihre Verwendung sinnvoll ist, gerissen. Diese Verwahrlosung führt vor allem deshalb zu den endlosen Debatten um Grundsatzfragen, weil in ihnen moralische Äußerungen gebraucht werden, um Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck zu bringen. Die jeweiligen Argumente sind dabei in sich logisch schlüssig und dennoch nicht in der Lage, eine Entscheidung herbeizuführen, weil sie von unterschiedlichen, meist persönlichen, Prämissen abhängig sind, die unmöglich auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Eine Kritik dieses Zustandes wird dadurch erschwert, daß auch seine Kritiker von dieser Verwahrlosung betroffen sind.
MacIntyre geht deshalb davon aus, daß die »moralische Krise der Gegenwart« nur von einem Standpunkt aus beschreibbar ist, der außerhalb dieser Gegenwart liegt. Er stellt sich in die Tradition der aristotelischen Moral und nimmt diese als Maßstab. MacIntyre macht dabei nicht den Fehler, die aristotelische Moral für eine Moral an sich zu halten. Diese kann es nicht geben, sondern immer nur eine konkrete Moral, die in bestimmten historischen und sozialen Zusammenhängen steht. Deshalb beginnt MacIntyre bei der Darstellung der Tugenden mit der Praxis. So werden die Zwecke und Ziele der Tugenden, die nicht nur um ihrer selbst willen ausgeübt werden, deutlich.
»Das gute Leben für den Menschen ist das Leben, das in der Suche nach dem guten Leben für den Menschen verbracht wird, und die für die Suche notwendigen Tugenden sind jene, die uns in die Lage versetzen, zu verstehen, worin darüber hinaus und worin sonst noch das gute Leben für den Menschen besteht.«
Tugend definiert MacIntyre als eine erworbene Eigenschaft, »die den einzelnen in die Lage versetzt, sich auf das Erreichen des spezifisch menschlichen Telos zuzubewegen, gleichgültig ob es natürlich oder übernatürlich ist«. Sie ermöglicht es uns, die Güter zu erreichen, die aus der Praxis menschlicher, kooperativer Tätigkeit folgen bzw. deren Resultat sind. Ziel des tugendhaften Handelns ist, die »Vortrefflichkeit « zu erreichen, die dieser Praxis und ihren Gütern angemessen ist. MacIntyre unterscheidet dabei zwischen einer Tätigkeit und der Praxis, in der diese ihren Platz hat: »Mauern ist keine Praxis, wohl aber die Architektur.« Ohne die Tugend, auch das ist noch Teil der Definition, ist es nicht möglich, diese Güter zu erreichen, weil erst die Tugenden uns dazu bringen, die Widrigkeiten, die uns auf dem Weg zu den Gütern begegnen, zu überwinden.
Der Erwerb der Tugenden und ihre Ausübung finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern stehen im Kontext der Traditionen einer Gemeinschaft, die verfallen und sich auflösen können. Nur die Ausübung der relevanten Tugenden stärkt die Traditionen, die wiederum die Tugenden tradieren. Mit diesem Plädoyer für Tradition und Gemeinschaft macht MacIntyre deutlich, wogegen er argumentiert: gegen Individualismus und Liberalismus. Dieser war in 300 Jahren nicht in der Lage, einen rational vertretbaren, allgemeingültigen Standpunkt zu entwickeln, weil es in der liberalen Natur liegt, daß es einen solchen nicht geben kann. Deshalb ist die Aufklärung gescheitert. Ebenso kritisiert MacIntyre den Marxismus, der ähnlich grundlos optimistisch wie der Liberalismus ist. MacIntyre kommt zu dem Schluß, daß alle gegenwärtigen politischen Traditionen erschöpft sind und damit auch der Konservatismus, den er ebenfalls einem zersetzenden Individualismus verpflichtet sieht.
Auch wenn immer wieder zu lesen ist, MacIntyre sei ein Vertreter des Kommunitarismus, hat er die Bezeichnung für sich immer wieder abgelehnt. Er sieht auch diese Idee mit dem Liberalismus verbunden und kann Gemeinschaft an sich nichts abgewinnen. Es geht MacIntyre immer um eine konkrete Gemeinschaft, die angesichts der »moralischen Krise« bestimmte Forderungen erfüllen muß. Sein abschließender Hinweis auf den hl. Benedikt verweist den Leser auf lokale Formen von Gemeinschaft, die in Zeiten sozialer und kultureller Dunkelheit überleben und ihre Tradition pflegen können. Daß dieser Hinweis in den letzten 30 Jahren nicht verstanden wurde, ändert nichts daran, daß Der Verlust der Tugend eines der wichtigsten philosophischen Bücher ist, das vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Hochschätzung der »Werte« nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.
Ausgabe
- Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M.: Campus 2006.
Literatur
- Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1994.
Der Artikel wurde von Erik Lehnert verfaßt.