Verlust der Mitte

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
Version vom 9. Oktober 2017, 15:09 Uhr von Admin (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „:'''Verlust der Mitte'''. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, :Hans Sedlmayr, Salzburg: Müller 1948. Bereits in seinen frü…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit,
Hans Sedlmayr, Salzburg: Müller 1948.

Bereits in seinen früheren Arbeiten, vor allem zur mittelalterlichen Kunst und zur Barockarchitektur und -malerei, bestach Sedlmayr durch seine herausragende Fähigkeit zur Überschau über Epochen und Stile und zur Herausarbeitung ihrer strukturellen und geistesgeschichtlichen Besonderheiten. Sedlmayr gilt als Meisterschüler Alois Riegls, dem er 1936 auf dessen Wiener Lehrstuhl nachfolgte. Sedlmayr, der Mitglied der NSDAP gewesen war, war seit 1951 Ordinarius in München und seit 1965 lehrte er an der Universität Salzburg.

In brillantem Stil beleuchtet Sedlmayr in seinem Verlust der Mitte das 19. Jahrhundert als eine Epoche des Stilverlustes und einer zunehmenden Zersplitterung der Künste. Die neuen Aufgaben, die sich der Kunst in der technisch geprägten modernen Welt zeigen, konnten nicht mehr in einer Gesamtsicht bewältigt werden.

Ein wesentlicher kritischer Einwand gilt der Rückführung von Malerei auf Zeichnung und Silhouette und der Begrenzung auf das vordergründig Sichtbare. Dabei werden auch innere Widersprüche der Moderne diagnostiziert. Einerseits versuchen die Künste, sich peinlich genau in ihren jeweiligen Gattungsgrenzen zu erhalten; andererseits kommt es zu einer Grenzverwischung zur Natur, zu Regressionen, zu Anleihen bei der Maschinentechnik, aber auch bei »primitiven« Hervorbringungen oder ethnologischen Zeugnissen. »Konstruktivismus « und Stilpluralismus führen zu Symptomen wie dem »schreienden Bild«, der chaotisch entfesselten Malerei und einem vernichtenden Urteil über den Surrealismus als unmaskierte Evokation des absoluten Chaos. Torso und Fragment dominieren.

»Die Hoffnung liegt dort, wo am tiefsten unter diesen Zuständen gelitten wird. Dazu aber ist zu sagen: daß unter all dem im 19. und 20. Jahrhundert mit am tiefsten die Künstler gelitten haben, gerade diejenigen, deren Auftrag es war, in furchtbaren Visionen den Sturz des Menschen in seiner Welt sichtbar zu machen. Es gibt im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Typus des leidenden Künstlers, des einsamen, des irrenden, des verzweifelten, des am Rande des Wahnsinns stehenden Künstlers, den es früher höchstens als Einzelnen gegeben hat.«

Aus einzelnen scharfen Beobachtungen sucht Sedlmayr eine umfassendere Tiefenstruktur freizulegen. Sie ergibt eine Tendenz moderner bildender Kunst zu Aussonderung und Polarisierung, zur Loslösung von der Verortung des Menschen. Zentral – und geradezu gleichbedeutend mit dem Verlust der Mitte – ist nach Sedlmayr die Preisgabe des Humanum selbst, eines orientierenden Maßes des Menschen. In all diesen Symptomen erkennt Sedlmayr die Indizien einer totalen Störung. Eine Autonomie-Kunst, die sich vom Zusammenhang zwischen dem Menschen und Gott getrennt hat, führt zurück ins Ungeformte oder ins Anorganische – und letztlich in die Barbarei. Man wird nicht fehlgehen, wenn man eine ähnliche Diagnose Thomas Manns Roman Doktor Faustus (1947) im Blick auf die moderne Musik abliest.

Eindrucksvoll sind auch Sedlmayrs Versuche, Vorläufer der modernen Kunst namhaft zu machen, etwa im Manierismus, bei Hieronymus Bosch oder in der Spätromantik. Er diagnostiziert für die Zeit zwischen 1770 und 1840 einen Krankheitsverlauf, der von der »Befreiung« zur »Verneinung« der Kunst geführt hat.

Sedlmayr versagt sich ebensowenig die Prognose, wobei er von zwei offenen Möglichkeiten ausgeht: Einerseits könnte eine neue Weltkultur den Charakter der Gegenwart auf die Spitze treiben; andererseits sei es auch denkbar, daß sie ein Übergangssymptom bleibt. Dies würde aber erfordern, daß auf die technische Unifizierung der Welt eine geistige Einheit folgt. Für unerläßlich gilt Sedlmayr in diesem Zusammenhang ein »organisches Verhältnis zur Vergangenheit« und die Wiedergewinnung einer Hierarchie in den Künsten, die letztlich auf ihren Ursprung aus Gottesdienst und Kultus zurückzuführen hätte. Durch den Verlust der Mitte ist der Thron des erscheinenden Gottes leer. Dabei formuliert Sedlmayr als Paradigma, daß in den sich verändernden und krisenhaften Zuständen »das ewige Bild des Menschen festzuhalten und wiederherzustellen « ist.

Sedlmayrs Kritik an moderner Kunst ist fundamental. Sie verwendet aber nicht einfach altkonservative Stereotypen oder die Formel der »Dekadenz«, vielmehr versucht sie das Spezifische der neuen »Störungen « zu erfassen und aus historischer und geistesgeschichtlicher Betrachtung heraus die leitenden Tendenzen sichtbar zu machen. Die zerbrochenen Formen der Moderne sind dort, wo sie sich nicht auf Manier und Marotte reduzieren, Seismographen der Krise der Moderne und tragen sogar das Leiden am Tod Gottes stellvertretend aus. Doch auch über diese Befunde geht Sedlmayr noch hinaus, in einer Betrachtung, vor welcher der Begriff der Mitte erst Gestalt gewinnt. Er ist bei Sedlmayr keineswegs nur geistesgeschichtlich, sondern transzendent theologisch gedacht. Deshalb geht es ihm auch nicht um die Rekonstruktion von Geschichte, sondern die Frage nach der Mitte der Geschichte. Dies ist mit zu berücksichtigen, wenn man Sedlmayrs Mittelalterbild Stilisierung und Funktionalisierung vorwirft, so wie dies in jüngerer Zeit wiederholt geschehen ist.

Sedlmayr hat gewiß kein gerechtes und ausgewogenes Spektrum der ästhetischen Moderne entworfen. Arnold Gehlens Studien zur modernen Malerei könnten vielfach als Korrektiv firmieren. Seldlmayr hat aber durch die Konzentration auf ihre Pathologien einen bemerkenswerten Gegenentwurf geleistet, dessen Frage nach dem Wesen eine entschiedene und eindrucksvolle Gegenkonzeption zum Konstruktivismus heutiger kulturwissenschaftlicher Moden sein kann. Er zielt mit seinem Buch, das seinerzeit heftige Kontroversen (u. a. mit Theodor W. Adorno) provozierte, auch auf einen Kunstbegriff jenseits des l’art pour l’art im Blick auf eine letztlich kultisch hieratische Verankerung der Kunst.

Ausgabe

  • 11. Auflage, Salzburg: Müller 1998.

Literatur

  • Eva Frodl-Kraft: Hans Sedlmayr, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 44 (1991).
  • Andreas Prater: Revolution und Wahrheit. Anmerkungen zum Geschichtsverständnis Hans Sedlmayrs, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2000).
Der Artikel wurde von Harald Seubert verfaßt.