Die Technik und die Kehre
- Die Technik und die Kehre.
- Martin Heidegger, Pfullingen: Neske 1962.
Heideggers schmaler Text ging aus dem umfangreichen, erst zu seinem 100. Geburtstag posthum 1989 erschienenen Nachlaßwerk Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis hervor. Es markiert Heideggers Denken des Seins, das in der »Kehre«, nach Sein und Zeit, zu dem Absprung in einen anderen Anfang der Gelassenheit und Verhaltenheit führte. In ausführlicherer Version hat Heidegger den Befund in seinen Bremer und Freiburger Vorträgen Ende der vierziger Jahre dargelegt.
In diesem Zusammenhang steht die denkerische Deutung des Wesens der Technik, das, so Heideggers zentrale Einsicht, selbst nichts Technisches ist. Heideggers Frage nach der Technik ist deshalb auch keineswegs mit einer einfachen Technikkritik, erst recht nicht mit der Suche nach Einhegungen der Technik gleichzusetzen.
Heidegger erkennt vielmehr die Unausweichlichkeit des Wesens der Technik als Letztgestalt der abendländischen Metaphysik, als letzte Verstellung der Seinsfrage in der Machenschaft und dem »Gestell«.
Heidegger deutet das Wesen der Technik in der seinsgeschichtlichen Tiefendimension: Schlagende Beispiele machen das Neue am Wesen der Technik aber unmittelbar einsichtig. Während eine Brücke über den Neckar bei Heidelberg Strom und Landschaft versammelt, Himmel, Erde und Menschen an einen Ort fügt, bestellt ein modernes Kraftwerk die Landschaft. Es ist nicht in sie, die Landschaft ist in das technische Gestell eingebaut.
An die Stelle fragenden, besinnenden Denkens, so Heideggers zweites Exempel, tritt ein »rechenhaftes« Kalkül, die Kybernetik mit der Reduzierung auf die Zahlenwerte von 0 und 1. Jenseits des Marxismus hat Heidegger damit auch eine Beschreibung der Entfremdung und In-Bestandnahme des Menschen in Industrie und Marktgeschehen vorgenommen, die Ernst Jüngers neuen Typus des »Arbeiters« und Nietzsches »letzten Menschen« ontologisch vertieft.
Grundlegend in Heideggers Exposition ist der Gedanke, daß die Technik ebenso wie die Kunst ein »Ins-Werk-setzen« von Wahrheit ist. Wahrheit (griech. a-letheia) denkt Heidegger dem Wortstamm folgend als »Un-verborgenheit«. Technik ist daher nicht ein bloßes Mittel, sie ist eine Weise des Entbergens, das die Welt in einen herausfordernden Anspruch stellt und in die Verfügung nimmt.
Wahrheit im Sinne des von sich her Aufgehens (physis), wie sie nach Heidegger den vorplatonischen Anfang europäischen Denkens zwischen Philosophie und Mythos auszeichnete, ist damit in den »Bestand« zurückgeführt. Heidegger hält in diesem Zusammenhang zweierlei fest: 1. Der Mensch begegnet vor dem technischen Gestell nirgends mehr sich selbst in seiner Existenz. 2. Das Gestell verstellt Scheinen und Walten der Wahrheit. Aufgrund von beiden epochalen Verstellungen deutet Heidegger die moderne Technik als Entbergung der höchsten »Gefahr«.
»Je mehr wir uns der Gefahr nähern, um so heller beginnen die Wege ins Rettende zu leuchten, um so fragender werden wir. Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.«
Ausgehend von Hölderlins Vers: »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«, sieht Heidegger am Endpunkt der neuzeitlichen Technik die Möglichkeit eines Einschwingens in das »anfänglich aus der Frühe Währende«, das Gewährende des Seins selbst, das auf die ursprüngliche Verborgenheit der Wahrheit zurückverweist.
Erst wenn begriffen ist, daß Technik gerade nicht als Mittel und als bloß »Technisches« hinreichend zu verstehen ist, kann dieser Rückschwung aus dem Ende in den Anfang der europäischen Geschichte möglich sein. Gegenmacht der Technik ist damit die Kunst, namentlich die dichterische Weltauffassung, die in jenes Gewährende einläßt und eine höchste Möglichkeit jenseits der Technik eröffnen kann, die Heidegger mit den Epitheta der »Riesenhaftigkeit« und des »Rasens« benennt. Sie werden die Erde dauerhaft zu einem Irrstern verkehren. Am Ende steht die Anmutung des Fragens als der »Frömmigkeit des Denkens«.
Heideggers Sprach- und Denkform bleibt in sich hermetisch. Dies ist nicht zufällig der Fall, denn eben darin vollzieht sich schon die Abstoßung von den technischen Kalkülen.
neuzeitliche Technik ist für Heidegger das übergreifende Phänomen, von dem die Totalitarismen nur Epiphänomene sind. Damit hat er in die Entfesselung einer – vermeintlich – freien, globalen kapitalistischen Welt als die Letztgestalt jener Technik vorausgeblickt.
Heidegger legt offen, daß die abendländische Metaphysik selbst mit Nietzsche an ihr Ende gekommen ist. In dieser Diagnose kommt er mit Gehlen überein; er zieht daraus aber die gänzlich andere Konsequenz, daß die Sache eines verhaltenen, dichterisch fragenden Denkens jenseits der Bahnen der Metaphysik neu anzusetzen hätte.
So inspirierend Heideggers Gedankenbewegung für ökologische und naturphilosophische Fragehorizonte ist, er greift auch über sie weit hinaus. Heideggers ontologische Problemstellung ist weder unmittelbar in Lebensmaximen noch in politische Strategien zu übersetzen. Sie ist aber in ihrer Tiefenschärfe unerläßlich, wenn man sich um eine philosophische Deutung des Schicksals der Moderne bemüht.
Heideggers Spätphilosophie ist vielfach rezipiert und kommentiert worden. Der Streit der philosophischen Schulen tobte um sie: von positivistischen und ideologiekritischen Desavouierungsversuchen über epigonale Wiederholungen, zu kontextbetonten Rekonstruktionen. Es ist unbestritten, daß der akademische Einfluß von Heideggers Denken unter dem Einfluß amerikanischer analytischer Philosophie stark zurückging. Die Macht seines Denkens bleibt davon ungebrochen, und er stellt nicht zuletzt die Begriffe bereit, die genau treffen, was in jener Mainstream-Kultur gängig ist.
Ausgabe
- Stuttgart: Klett-Cotta 2002.
Literatur
- Günter Seubold: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg/München 1986.
- Silvio Vietta: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989.
Der Artikel wurde von Harald Seubert verfaßt.