Reden an die deutsche Nation

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Reden an die deutsche Nation.
Johann Gottlieb Fichte, Berlin: Realschulbuchhandlung 1808.
Johann Gottlieb Fichte (1762–1814)

Fichtes Reden sind einerseits in der Zeit der preußischen Niederlage und Erniedrigung als zentraler Beitrag zu Preußens Erneuerung angelegt. Gehalten wurden die Vorlesungen im Winter 1807/08 in Berlin, als es unter französischer Besatzung stand. Zugleich wollen sie aber der eigenen Zeit ihren verborgenen Sinn im Weltplan aufschlüsseln, und dies nicht nur für diese Zeit selbst, sondern im Sinne des sich selbst begründenden Denkens der Wissenschaftslehre. Jede nur kontextuelle Lesart greift also zu kurz. Ebenso wichtig ist es, zu bemerken, daß Fichte unter den großen Geistern seiner Zeit der vielleicht entschiedenste Parteigänger der Französischen Revolution war. Die Begründung des Vernunftprinzips der Revolution hielt Fichte freilich für empirisch willkürlich. Man könne gar nicht, so Fichte in einem Brief an Reinhold, schlechter von den revolutionären Franzosen und ihren Parteigängern denken als er selbst. »Aber es ist leider dahin gekommen, daß jeder Biedermann wünschen muß, daß so schlimm auch die Praxis derselben ist, sie doch um ihrer Principien willen, den Sieg davon tragen möchten.« Fichte betont, daß die Nationalerziehung nur auf der Grundlage einer Absonderung der künftigen Generationen von dem »Gemeinen« der Gegenwart gelingen kann. Zugleich sieht er aber die vornehmste Aufgabe der gebildeten Stände darin, eben zu dieser Bildung beizutragen.

Aus der Niederlage kann, so betont Fichte, nur eine ganz neue Ordnung der Dinge führen, was zugleich bedeutet, daß an die Stelle alter Eigensucht die Erziehung der Nation zu einem »allgemeinen Selbst« treten muß. Die Erziehungskonzeption, die ganz in der Tradition der Platonischen paideia zu sehen ist, hat zu ihrem Ziel, »einen festen und nicht weiter schwankenden Willen« hervorzubringen. Zu diesem Zweck muß der Zögling nicht nur angeredet, er muß so »gemacht« werden, daß er nicht anders wollen kann, als gemäß dem Grundgesetz der geistigen Natur zu handeln.

Scharfer Kritik unterzieht Fichte auch das traditionelle Christentum mit seiner Überbetonung der Sünde, und er fordert als Kern der Religion die Einsicht in das, was der »reine Wille in seinem Grund und Wesen selber sei«.

Zum preußischen Patrioten wurde Fichte erst aus Not. Die Begründung der Prinzipien aus dem Geist der Freiheit und eine nationalpädagogische Erneuerung gemäß diesem Prinzip ist nach Fichte die eigentliche Aufgabe der Deutschen. Geschichtsphilosophisch bedeutet dies, nachdem die alte Identität aus der geistigen Natur an das Räsonnement, ein »Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit«, verloren ist, die Eröffnung eines neuen, dritten Reiches. Die Aufklärungsepoche ist nach Fichte die Epoche der Selbstsucht. Sie trägt zwar die Form der Wissenschaft, nichts gelten zu lassen, was sie nicht begreift. Doch ihr alleiniger Maßstab ist ein »bloß empirische[r] Erfahrungsbegriff« ohne höheren Horizont.

Während im Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit Glaube und Verstand in einen Widerstreit treten, der Verstand den Glauben aufhebt, wird auf der Stufe des grundlegenden Wissens der Glaube vom Verstand bestätigt werden, und es wird (dies eine sprechende Parallele zu Hegel) sich nur die Form, nicht der Inhalt unterscheiden.

Eine Nation sind die Deutschen nicht. Fichte schwebt als Paradigma vor allem das föderierte Reich als einer »Völker-Republik« vor, und er betont sogar, daß es nichts zur Sache tut, ob der deutsche Staat in einem oder in mehreren erscheint. Grundlegend für die Fundierung des Wesens einer Nation ist in jedem Fall die Sprache. Die deutsche Sprache eröffnet, im Unterschied zu den nur geistreichen, aber im letzten toten Sprachen der romanischen Welt, den Zugang zur Ideenwelt, zu Verbesserlichkeit des Menschen und Freiheit. In der zentralen sechsten Rede betont Fichte, daß die deutsche Geschichte eine Geschichte der Freiheit und des Republikanismus ist. Dies ist eine dezidiert anti-römische, protestantische, auf Luther zentrierte, von den Reichsstädten gegen den Zentralismus gerichtete Geschichtsauffassung. Auch Napoleon wird von Fichte jede höhere Legitimation abgesprochen. Er ist ein »Namenloser«, weder legitimer Kaiser noch Erbe der Republik. Mit Kant bleibt Fichte auf der Linie eines Ausgleichs von Patriotismus und Kosmopolitismus. Gerade die Defensivpolitik des Reiches im Unterschied zu den kolonialen Ausgriffen der romanischen Nationen hebt Fichte hervor. In diesem Sinne ist auch sein Votum für die Wahl- und gegen die Erbmonarchie zu verstehen.