Heuchelei und moralische Weltanschauung

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Heuchelei und moralische Weltanschauung. Vorlesung aus Anlaß der Emeritierung in der Freien Universität Berlin, 6. Juli 1995,
Peter Furth, in: Berliner Debatte Initial 8 (1997), Heft 3, S. 45–56.

Die Abschiedsvorlesung des 1930 geborenen Sozialphilosophen Peter Furth ist einer der wichtigsten Beiträge zur geistigen Lage im wiedervereinten Deutschland. Furth handelt darin die Bedingungen ab, unter denen heute die Heuchelei blüht und den Anpassungsdruck steigert: politischer Moralismus, massendemokratische Öffentlichkeit, die Menschheit als höchstes Kollektivsubjekt, Privilegierung des Opfers, öffentliches Bekenntnis ehedem privater Neigungen. Als ein Extrem der Heuchelei wird das öffentlich inszenierte Schuldgefühl der Deutschen untersucht, das nach Furth der Tradition des »Größenwahns« christlicher Schuldverantwortung folgt und in der Gedenkreligion des Holocaust gipfelt.

Zunächst sieht Furth die Heuchelei durchaus positiv als ein »unwiderstehliches Mittel der Kultivation«, wo Innerlichkeit und soziale Forderung nicht zur Deckung kommen. Die Heuchelei vermeidet die Entscheidung zwischen zwei gleichstarken Motiven. Sie schützt vor den Zumutungen des Kollektivs. Sie zeugt aber auch den Gegentypus zum Märtyrer, den Scheinheiligen: »Vielleicht ist es überhaupt der Unwille zur tragischen Entscheidung, der Heuchler entstehen läßt.« Im Bündnis mit Schuldgefühl und moralischer Weltanschauung aber dringt die Heuchelei einerseits tiefer nach innen und andererseits aggressiver nach außen. Die Kombination von Schuldgefühl und Heuchelei macht diese zum Werkzeug eines neuen Totalitarismus – inneres Gefühl und äußeres Bekenntnis, Selbst und Kollektiv, fallen in eins: »Heucheln, nicht um sich zu verstecken, sondern um andere heucheln zu machen, [das] ist z. B. das Wesen der political correctness.« Die Heuchelei wird repressiv.

Furth, dessen Laufbahn bei Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung begann, wurde in den achtziger Jahren zum Kritiker jenes »kritischen Bewußtseins«, das seine historisch-politische Potenz an der Negativität der Verhältnisse mißt: je schlimmer diese Verhältnisse, desto größer jene Potenz. Furth verweist dagegen auf die begrenzte Perfektibilität des Menschen, auf seine conditio humana. Er bezieht sich auf zwei Ernstfälle: Arbeit und Tod. Gegen die marxistische Erlösungshoffnung, die den Menschen als Schöpfergott über die sozialen Verhältnisse heraushob, brachte Furth, durchaus marxistisch, die Naturbedingtheit der Arbeit ins Spiel. Sein Verweis auf die Grenzen des Handelns und seine unkalkulierbaren Nebenfolgen wurde aber vor 1989 weder in Ost noch in West goutiert. Nach der Wiedervereinigung wurde die wissenschaftliche von der moralischen Weltanschauung abgelöst. Auf die Geschichtsphilosophie folgte die Ethisierung von Geschichte, Politik und Weltpolitik.

»Das öffentlich und rückhaltlos gelebte Schuldgefühl ist ein wahrer Jungbrunnen … Nicht die Verstockten, die am Schuldgefühl den Selbstverlust fürchten, und deshalb bis zuletzt Schuldabwehr betreiben, retten ihr Selbst, sondern umgekehrt gerade diejenigen, die ihr Selbst vom Schuldgefühl verzehren lassen, um unter Berufung auf die neuen Werte in frühere Mächtigkeiten wieder einrücken zu können.«

Furth erkannte früh, daß die später im Holocaust-Mahnmal gipfelnde Gedenkkultur manichäische Züge annahm. Er kritisierte nicht die Unterscheidung in Gut und Böse, sondern daß diese Unterscheidung vor dem Tod nicht länger haltmachte – ob es um den Streit um die Beerdigung von Gudrun Ensslin ging oder um die SS-Gräber von Bitburg. Die Trauer, ganz gleich um wen, ist für Furth ein Menschenrecht. Kein zweites Phänomen wirft für ihn so intensiv die Frage nach bürgerlicher Vergesellschaftung und sittlicher Vergemeinschaftung auf wie der Tod. Der »epigonale Antifaschismus« bewirkt seine eigene Zweiteilung der Gesellschaft: »Die Schuldgefühle der einen sind die Machtchancen der anderen.« In Verbindung mit der Tugend barg die Heuchelei schon immer die Gefahr, daß sich mit jeder gelungenen Täuschung »die Furcht vor Entdeckung und Strafe nicht mindert, sondern mehrt, bis schließlich das Schuldgefühl so konstant ist, daß Heuchelei und Tugend nicht mehr unterscheidbar sind«. Die soziale Angst generiert den Willen zur Täuschung, damit aber auch die Gefahr der Selbsttäuschung, der »Maskerade nach innen«. Sie ist insbesondere ein Problem der Deutschen, denen unter dem Vorwurf der »Unfähigkeit zu trauern« als Ersatz für den Schmerz eigener Verluste jahrzehntelang ein »stellvertretendes Mitgefühl« für idealisierte Opfergruppen abverlangt wurde – bei gleichzeitigem Verbot der Heuchelei.

»Als innerer Nachvollzug äußerer Schuldzuweisungen führt es [das durch die Heuchelei verfestigte Schuldgefühl] zu Unterwerfung und Selbstpreisgabe, ermöglicht aber andererseits durch die Identifikation mit den Normen der Schuldzuweisung eine Wiederaufrichtung des Selbst und womöglich eine neue Überlegenheit.« Die Schuld wird unter »Hitlers Kindern« zu einer Art genetischem Schicksal. Aus dem Schuldvorwurf spricht ein umgekehrter Rassismus. Die deutschen Ankläger scheinen nur nicht zu bemerken, daß der Vorwurf sie selbst mit einschließt.

Ausgabe

  • Wiederabdruck in: Peter Furth: Troja hört nicht auf zu brennen. Aufsätze aus den Jahren 1981 bis 2007, Berlin: Landtverlag 2008, S. 337–365.

Literatur

  • Institut für Staatspolitik (Hrsg.): »Meine Ehre heißt Reue«. Der Schuldstolz der Deutschen, Schnellroda ²2009.
Der Artikel wurde von Andreas Krause Landt verfaßt.