Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
Version vom 18. Januar 2017, 18:35 Uhr von Admin (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „:'''Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus'''. :Carl Schmitt, Berlin: Duncker & Humblot 1923. Um Aufschluß über die gegenwärtige Lage…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.
Carl Schmitt, Berlin: Duncker & Humblot 1923.

Um Aufschluß über die gegenwärtige Lage einer politischen Institution zu erlangen, ist es zuerst notwendig, sich des ihr zugrundeliegenden Begriffes und seines ideellen Gehaltes bewußt zu werden. Erst dann läßt sich nachvollziehen, ob diese Institution – etwa der Parlamentarismus – den aktuellen Gegebenheiten gewachsenist. Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt in Carl Schmitts Untersuchung, die erstmals im Krisenjahr 1923 erschien.

Ein Umstand, der nach Schmitt die inhaltliche Bestimmung des Parlamentarismus so schwierig macht, ist die historischpolitische Verbindung, die er während des 19. Jahrhunderts mit der Demokratie im gemeinsamen Kampf gegen die Monarchie eingegangen war. Aufgrund dessen herrscht bis in unsere Gegenwart die Ansicht vor, daß diese beiden Komplexe natürlicherweise zusammengehören und nicht getrennt voneinander bestehen können.

Der Parlamentarismus als politische Idee gehört der geistigen Welt des Liberalismus an. Ihm liegt der Glaube an Diskussion und Öffentlichkeit, ein »government by discussion«, zugrunde. Dies ist der zutiefst liberale Glaube daran, daß es möglich ist, den Gegner mittels rationaler Argumentation von der Wahrheit eines Arguments zu überzeugen. Die Verwirklichung dieses Gedankens in der Institution des Parlaments ist allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden, wie beispielsweise Unabhängigkeit und Aufgeschlossenheit der Parlamentarier.

Sind diese Bedingungen nicht mehr gegeben, etwa aufgrund unüberbrückbarer ideologischer Differenzen, parteipolitischer Abhängigkeit oder wirtschaftlicher Einflußnahme, kann der Parlamentarismus seinem ursprünglichen Ideal nicht mehr gerecht werden; es werden dann nur noch Kompromisse zwischen sich entgegenstehenden Interessen ausgehandelt. Eine Diskussion im eigentlichen Sinne findet nicht mehr statt. In einer Massendemokratie geht es darum, möglichst große Mehrheiten zu erzielen, mit denen regiert werden kann. Dabei kommen Mittel der Propaganda und Manipulation zum Einsatz, die in erster Linie an Leidenschaften und Einzelinteressen appellieren. Die Vernunft im Sinne des Abwägens der Argumente spielt, wenn überhaupt, nur noch eine marginale Rolle.

Weiterhin weist Schmitt auf den allen liberalen Ideen wesensmäßig fremden Charakter der Demokratie hin. Nicht das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist das entscheidende Merkmal der Demokratie, sondern die Homogenität ihrer Bürger. Dem entspricht auf der anderen Seite die Abgrenzung von allem Heterogenen: »Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nichtgleich behandelt wird.«

»Sind Öffentlichkeit und Diskussion in der tatsächlichen Wirklichkeit des parlamentarischen Betriebes zu einer leeren und nichtigen Formalität geworden, so hat auch das Parlament, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren.«

Worin genau diese Gleichheit besteht, ist dabei erst einmal offen. Es kann sich um gemeinsame Wertvorstellungen, physische Merkmale oder religiöse Überzeugungen handeln. Wichtig ist, daß die Gleichheit insofern substanzhaft ist, als die Möglichkeit einer Ungleichheit, und damit einer Abgrenzung, immer besteht. Eine allgemeine Gleichheit, die meint, ohne jegliches Unterscheidungsmerkmal auszukommen, und daher jedem Menschen lediglich aufgrund seiner Eigenschaft als Mensch die gleichen Rechte zuerkennt, kann keine politische Einheit begründen und aufrechterhalten. Ein Staat, der die allgemeine Gleichheit verwirklichen will, löst sich unweigerlich selbst auf.

Carl Schmitt betrachtete den Glauben an den Parlamentarismus als erloschen. Er sah diesen Bedeutungsverlust liberaler Ideen vor einem weiten Hintergrund, der auch die Ablösung des marxistischen Sozialismus – als einer von Hegels Geschichtsdialektik ausgehenden rationalistischen Ideologie – durch eine irrationale, den Mythos in den Vordergrund rückende Weltanschauung umfaßte. Manifestationen dieser Stärke des politischen Mythos erkannte er sowohl im faschistischen Italien als auch im bolschewistischen Rußland. Ein Jahrzehnt nach Schmitts Diagnose wurde der Parlamentarismus auch in Deutschland suspendiert, um nach der Niederlage von 1945 im Zuge der »liberalen Restauration« (Hans-Dietrich Sander) wieder aufzuerstehen, als ob es Weimar nie gegeben hätte.

Ausgabe

  • 9. Auflage (Nachdruck der 2. Auflage von1926), Berlin: Duncker & Humblot 2010.

Literatur

  • Hans-Dietrich Sander: Kritik der liberalen Restauration, in: ders.: Der nationale Imperativ. Ideengänge und Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands, Essen ²1990
  • Thor von Waldstein: Der Beutewert des Staates. Carl Schmitt und der Pluralismus, Graz 2008.
Der Artikel wurde von Wiggo Mann verfaßt.