Betrachtungen eines Unpolitischen

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Betrachtungen eines Unpolitischen,
Thomas Mann, Berlin: Fischer 1918.

Wenn man als Minimalkonsens der »Ideen von 1914« die Vorstellung von einem »Militarismus mit wirklicher Volksmitbestimmung « verstehen darf, dann hat diese Position ihre glänzendste Verteidigung in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen gefunden. Das im Herbst 1918 erschienene Buch entwickelte in letzter Stunde noch einmal die deutsche Position mit der Entgegensetzung von »Kultur« und »Zivilisation«, »Mitte« und »Westen«, »Musik« und »Literatur«.

Die Betrachtungen haben allerdings gegenüber Manns früherer Parteinahme im »Kulturkrieg« schon einen leicht resignativen Unterton. Von der Erwartung einer neuen Synthese aus Macht und Geist, von der Vorstellung, daß der Weltkrieg »der Bringer seines Dritten Reiches« sein werde, hatte er sich deutlich entfernt. Mann hielt zwar daran fest, daß der Krieg den Materialismus der Friedenszeit zerstört und ein neues Gemeinschaftsbewußtsein geschaffen habe, er gab auch seiner Genugtuung über den Separatfrieden mit Rußland und der Fortsetzung des Kampfes gegen den »Westen« als ideologischen Hauptfeind Ausdruck, aber selbst für den Fall eines Sieges hielt er die Selbstbehauptung der deutschen Eigentümlichkeit für unwahrscheinlich.

Man kann das besonders deutlich an Manns Auseinandersetzung mit der »Demokratie « des »Westens« erkennen, deren »doktrinäre Verlogenheit« ihm zuwider war, deren Sieg er aber als zwangsläufig betrachtete. Das äußerste, was er erhoffte, war eine spezifisch deutsche Form des »Volksstaates«, aber auch die würde dem demokratischen Modell sehr weitgehend entsprechen.

Was seine eigene – als konservativ deklarierte – Position angeht, so nahm er eine breite Überlieferung in Anspruch, von den Klassikern (Edmund Burke, Adam Müller) bis zu den Neukonservativen (Fjodor M. Dostojewski, Paul de Lagarde), unter Einbeziehung aber auch der Deutschen Bewegung von Goethe bis Nietzsche, die man in der Vorkriegszeit kaum als »konservativ « bezeichnet hätte. Allerdings schwankte Mann zwischen der Sorge, »vielleicht eine abgelebte Idee« zu vertreten, und der Erwartung, daß der Konservatismus durch den Krieg eine Stärkung erfahre. »Dieses Ja-und-doch-Nein ist mein Fall«, heißt es an einer Stelle. Was Mann selbst als ironische Gebrochenheit seines Konservatismus bezeichnet, was Wechselspiel von Parteinahme und Infragestellung der Parteinahme erklärt und zu der von Mann konzedierten »Unlesbarkeit« des Buches beiträgt, kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Betrachtungen durchaus als eine politische Stellungnahme und in gewissem Sinne als erste Programmschrift der Konservativen Revolution verstanden werden müssen. Mann selbst hat diesen Begriff zwar nicht in den Betrachtungen, aber in einem Aufsatz von 1921 im Sinn eines »geistigen« Konservatismus, unter Berufung auf Nietzsche und in der Abwehr gegen die »positivistisch-liberale Aufklärung «, verwendet.

»Fort also mit dem landfremden und abstoßenden Schlagwort »demokratisch«! Nie wird der mechanisch-demokratische Staat des Westens Heimatrecht bei uns erlangen. Man verdeutsche das Wort, man sage »volkstümlich« statt »demokratisch« – und man nennt und erfasst das genaue Gegenteil: denn deutsch-volkstümlich, das bedeutet »frei« – nach innen und außen, aber es bedeutet nicht »gleich« – weder nach innen noch außen.«

Die Zustimmung zu den Betrachtungen war groß und blieb auch über das Kriegsende hinaus erhalten. Für die Ausgabe von 1922 entschärfte Mann die Betrachtungen, indem er einige Stellen strich. Er nahm jedoch Kontakt zu einzelnen Protagonisten, Gruppen und Zeitschriften auf, die für die Geschichte der Konservativen Revolution eine bedeutende Rolle spielen sollten. Seine eigenen politischen Überlegungen in der ganzen Übergangszeit zwischen dem Herbst 1918 und dem Herbst 1923 waren geprägt von Ideen, die in diesen Zirkeln diskutiert wurden. Auch die »Zwiespältigkeit «, das Schwankende in der Beurteilung der Vorgänge, deren Zeuge er wurde, war typisch: das Hin und Her zwischen der Annahme, daß der Umsturz notwendig gewesen sei, und der Aversion gegen diejenigen, die ihn gemacht hatten, zwischen der Trauer um die alte Machtstellung Deutschlands und der Idee einer neuen Weltmission, zwischen der Angst vor der Sowjetmacht und der Sympathie für einen »National-Bolschewismus«, zwischen der Vorstellung, daß der Kapitalismus sich überlebt habe, und der Verteidigung des Vorrangs von Bildung und Besitz, zwischen der Hoffnung, die Tradition in einer neuen Form bewahren zu können, und der Bereitschaft zu einem radikalen Neuanfang, zwischen der Annahme, daß der »Westen« gesiegt habe, und dem Glauben, daß die Deutschen berufen seien, »›etwas Neues in politicis zu erfinden‹ und zwar etwas Deutsches «.

Ausgabe

  • Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 13.1, Frankfurt a. M.: Fischer 2009.

Literatur

  • Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 13.2, Kommentar von Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2009.
  • Armin Mohler/Karlheinz Weißmann: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6. erweiterte und vollständig neu bearbeitete Auflage, Graz 2005.
Der Artikel wurde von Karlheinz Weißmann verfaßt.