Tübingen – Stift

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Eine nachhaltig säkulare Leistung der Reformation (➞ Wartburg, Wittenberg)in Deutschland war überall die Modernisierung der allgemeinen Bildung. In Württemberg waren es Johannes Brenz und Philipp Melanchthon, die das Hochschulstudium ganz neu strukturierten. Die Studentenschaft hatte sich künftig aus der Breite des Landes herzuleiten, die dann auch personelle Basis für eine institutionell dichte Volksbildung sein sollte. Dazu wurde an der Universität Tübingen ein »Stipendium« eingerichtet (um 1537/38), mit dem begabte und geprüfte Landeskinder aller Schichten zu höherer – zumal geistlicher – Bildung geführt werden konnten. Die Stipendiaten bekamen dann (um 1550) im alten Augustinerkloster auf der Neckarhalde Wohnund Studienräume zugewiesen, die bis in die heutige Zeit der angestammte Platz des Stifts blieben.

Das Tübinger Stift gehörte seither zu den bedeutendsten Bildungsorten im protestantischen Deutschland, wie die Klosterschule Maulbronn, die Hohe Carlsschule auf der Solitude (bei Stuttgart), die Fürstenund Landesschule zu St. Afra (bei Meißen), die Klosterschule zu Denkendorf, die Lateinschule St. Augustin Grimma oder Schulpforta (bei Naumburg).

Am großen geistig-kulturellen Umschwung um 1800 war das Tübinger Stift maßgeblich beteiligt. Hier wurde unter Christian Friedrich Schnurrers Ephorat von dem Repetenten Carl Immanuel Diez die philosophische Ausbildung ganz auf die Neue Kritische Philosophie Immanuel Kants (➞ Königsberg) umgestellt. Und es waren die Stipendiaten Friedrich Hölderlin (seit 1790), Georg Friedrich Wilhelm Hegel (seit 1790) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (seit 1792), die mit den von hier ausgehenden neuen geistigen Impulsen literarisch und philosophisch ganz neue Horizonte entfalteten. »Von Kantschen System und dessen höchster Vollendung«, so schreibt im Frühjahr 1795 Hegel an Schelling, »erwarte ich eine Revolution in Deutschland, die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden.« – Die Geburt des klassischen Deutschen Idealismus mit ihrer Losung »Das A und O aller Philosophie ist Freiheit« (Schelling 1795) ist also mit dem Tübinger Stift verbunden. – Und aus dem Stift kam schließlich auch ein veritabler Minister der Französischen Republik – Karl Friedrich Reinhard, Stifts-Primus seines Jahrgangs 1778–1783, seit 1791 im Dienste Frankreichs, 1799 gar Minister für äußere Angelegenheiten und immer wieder Gesandter in der Schweiz, in Hamburg, Dresden und Weimar.

Auch später rekrutieren sich immer wieder namhafte deutsche Dichter, Philosophen und Wissenschaftler aus dem Kreis der Tübinger Stiftler: Wilhelm Hauff (seit 1820), Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger (seit 1822), David Friedrich Strauß und Friedrich Theodor Vischer (seit 1825) und der spätere Begründer der Zeitschrift Kant-Studien (1895ff), Hans Vaihinger (seit 1870).

Als über die Zeiten bedeutender Ephorus (1987–2005) des Tübinger Stifts verkörperte namentlich Eberhard Jüngel (Jg. 1934) die Blüte der evangelisch-theologischen Wissenschaft der Gegenwart. Sein Nachfolger in diesem Amt wurde der Theologe und Kirchenhistoriker Volker Henning Drecoll.

Literatur

  • R. Julius Hartmann: Das Tübinger Stift, Stuttgart 1918.
  • In Wahrheit und Freiheit. 450 Jahre Evangelisches Stift in Tübingen, hrsg. v. Friedrich Hertel, Stuttgart 1986.
  • Martin Leube: Die Geschichte des Tübinger Stifts, 3 Bde., Stuttgart 1921–1936.
  • Georg Schmidgall: Die Französische Revolution im Stift und die Tübinger Studentenschaft, in: Tübinger Blätter 35 (1946–1947), S. 37–48.
Der Artikel wurde von Steffen Dietzsch verfaßt.