Oderbruch
- Brandenburg, östlich von Berlin
»Die Triebkraft des jungfräulichen Bodens berührte hier das Herz mit einer dankgestimmten Freude, wie sie die Patriarchen empfunden haben mochten, wenn sie, inmitten menschenleerer Gegenden, den gottgeschenkten Segen ihres Hauses und ihrer Herden zählten.«
Theodor Fontanes Worte aus dem Roman Vor dem Sturm sind Teil der Beschreibung einer jungen, nach Einschätzung des britischen Historikers David Blackbourn: einer »deutschen Landschaft«. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts mäandert hier die Oder durch ein Binnendelta, eine Urstromtalniederung, eine Fluß- und Sumpflandschaft von Oderberg im Nordwesten bis Lebus im Südosten, geschaffen durch die Weichseleiszeit vor rund 10 000 Jahren, am ehesten noch vergleichbar mit dem Spreewald: Die wenigen Familien, die hier leben, sind vor allem Fischer; es gibt reiche Bestände an Barschen, Karpfen, Aalen, Hechten, Lampreten, Quappen und Flußkrebsen. Eine Welt großer Artenvielfalt, aber auch eine unwirtliche Gegend: vereinzelte Dörfer und Höfe auf Anhöhen gebaut, dazwischen ein labyrinthisches Netz aus kleinen Wasserwegen, Tümpeln und Morast. Gras und Schilf, Erlen und dichtes Unterholz bestimmen die Vegetation. Zweimal im Jahr, im Frühling zur Schneeschmelze und im Sommer durch Unwetter und Zuflüsse, steht das Oderbruch unter Wasser – mit nur zwei bis fünf Metern über dem Meeresspiegel das am niedrigsten gelegene Gebiet der Mark Brandenburg. Mit flachen Kähnen bewegt man sich fort. Neue Nebenarme des Flusses bilden sich, häufig steht Nebel über dem Land. Es ist ein Malariagebiet, die Menschen sind anfällig für Erkrankungen wie Anämie, Lungenentzündung oder Darminfektionen. Dort, wo der Wasserpegel niedriger ist, hält man ein wenig Weidevieh. Der Kuhmist wird zusammen mit Astwerk für den Bau von kleinen Wällen, auf denen man Gemüse pflanzt, gegen das Wasser genutzt.
Die ersten Versuche, das Sumpfland zu kultivieren, unternahmen die Deutschordensritter und Zisterzienser, später fortgeführt von den Hohenzollern (➞ Hechingen). Doch das Absperren von Nebenarmen der Oder, die Errichtung von Deichen und die Melioration des Bodens bezog sich vor allem auf die Gegend um die Festung Küstrin, das südliche Oderbruch, das etwas höher liegt als der nördliche Teil, das sogenannte Niedere Oderbruch, und wo die Oder nicht ganz so wild das Land zerschnitt.
Während des großen Überschwemmungsjahres 1736 sieht König Friedrich Wilhelm I., welche Verheerungen das Wasser anrichtet; das neugewonnene Land im südlichen Oderbruch wird durch Rückstau aus dem Niederen Oderbruch überschwemmt. Andererseits erfährt der König auch, daß geschickt eingedeichte Besitzungen gar nicht oder nur gering betroffen sind. Er beauftragt daraufhin den Wasserbauingenieur und Oberdeichinspektor Simon Leonhard von Haerlem, ein Gutachten zur Trockenlegung des Oderbruchs zu erstellen. Dessen Fazit: möglich, aber mühsam und teuer. Der König weiß um die Wichtigkeit des Projekts, doch: »Ich bin schon zu alt und will es meinem Sohn überlassen.«
1740 besteigt Friedrich II. den preußischen Thron – er kennt die Probleme des Oderbruchs noch aus seiner Zeit, als er auf Geheiß des Vaters in der Küstriner Verwaltung arbeiten mußte. Doch das Unternehmen kann erst nach Ende der ersten beiden Schlesischen Kriege in Angriff genommen werden. Die drei Verantwortlichen für die Ausarbeitung des Plans: Haerlem, der Beamte Heinrich Wilhelm von Schmettau und Leonhard Euler, der berühmte Mathematiker, der bereits an der Planung des Aquädukts in Sanssouci (➞ Potsdam) und am Bau des Plaueschen Kanals beteiligt war. Am 8. und 9. Juli 1747 besichtigen die drei das Gebiet und geben dem König Bericht: Ein rund 18 Kilometer langer Kanal soll die Oder begradigen und ihren Lauf um ca. 24 Kilometer verkürzen; zusammen mit der Eindeichung des Flusses würde dies die Trockenlegung des Landes, durch das sich der Fluß schlängelt, erleichtern und zudem die Fließgeschwindigkeit erhöhen.
Am 17. Juli 1747 wird mit den Arbeiten begonnen; sieben Jahre ziehen sie sich hin: Krankheiten, fehlende Arbeitskräfte und Materialien, Widerstand durch Alteingesessene behindern den Fortgang des Projekts. Friedrich stellt schließlich Oberst von Retzow und Hauptmann Petri für die Leitung ab, Soldaten kommen nun zur Durchführung und Überwachung der Arbeiten zum Einsatz. Am 7. Juli 1753 kann der neue Flußlauf der Oder geflutet werden, und durch die Trockenlegung mittels eines Systems von Abzugsgräben gewinnt man alsbald ca. 32 500 Hektar fruchtbaren Bodens. – »Es war eine Heldentat. Es gibt keinen besseren Ausdruck dafür« (David Blackbourn). Und es ist der Markstein der friderizianischen Trockenlegungs- und »Peuplierungspolitk«.
Schon während der Arbeiten beginnt die Besiedlung des Landes, Preußen lockt die Kolonisten mit diversen Vergünstigungen. Ein Teil der neuen Bewohner stammt aus umliegenden Regionen wie der östlich der Oder gelegenen Neumark oder Mecklenburg. Doch wird in vielen Teilen des Heiligen Römischen Reiches um Kolonisten geworben: Es sind vor allem religiös verfolgte Protestanten sowie Bauern und Handwerker aus übervölkerten Gebieten, die dem Ruf des Königs folgen; sie kommen aus Niederösterreich, Hessen-Darmstadt, Sachsen, Württemberg, aus dem Salzburger Land und dem Schweizer Kanton Neuenburg – insgesamt 1 300 Kolonistenfamilien.
Der Anfang ist schwer. Die Siedler müssen inmitten von Schlamm, Krankheiten und organisatorischem Wirrwarr nicht nur die neuen Böden entwässern und aufbereiten, sondern auch eine Infrastruktur schaffen: Häuser, Straßen, Dörfer; sie roden, pflanzen und vernichten wilde Tiere, alles erschwert durch den Siebenjährigen Krieg (➞Leuthen), bis das Oderbruch schließlich zur Kornkammer Preußens und zur »Speisekammer« Berlins wird. Kolonisten- Sprichwort: »Die ersten haben den Tod, die zweiten die Not, die dritten das Brot.«
Not und Tod sollen schließlich knapp zweihundert Jahre später mit neuer, ungeahnter Wucht und Vernichtungskraft zurückkehren: In den frühen Morgenstunden des 16. April 1945 eröffnete das wohl größte Trommelfeuer der Geschichte die Schlacht um Berlin. Die 1. Weißrussische Front unter Marschall Schukow ging zum Angriff auf die deutsche Verteidigungslinie über, die sich auf die Seelower Höhen konzentrierte. Dazwischen lag das Oderbruch, das aufgrund des Frühjahrshochwassers und durch deutsche Pioniere, die ein Reservoir flußaufwärts geöffnet hatten, in ein Sumpfland verwandelt wurde. Am 19. April gelang der sowjetischen Übermacht der Durchbruch, der Weg nach Berlin war frei. Im Bereich der Seelower Höhen und des östlich vorgelagerten Oderbruchs fielen über 45 000 Soldaten an diesen vier Tagen. Entsprechend findet man heute sowjetische Ehrenmale wie etwa den T-34 in Kienitz und Soldatenfriedhöfe wie in Letschin, die zu DDR-Zeiten errichtet wurden.
Ebenfalls in Letschin – der heimlichen Hauptstadt des Oderbruchs – ist das Denkmal für Friedrich den Großen aus dem Jahr 1905 zu besichtigen. Als dieser 1763 das Gebiet besichtigte, verkündete er: »Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert!« Der Zusatz »im Frieden« wird heute zum Teil angezweifelt. Angesichts der stets wiederkehrenden Hochwasser und Überschwemmungen und der Vernichtung des Artenreichtums betrachtet man die »Heldentat« der Urbarmachung ambivalenter. Es gibt Renaturierungsideen und eine Initiative, das Oderbruch auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes zu setzen. Daneben bestimmen der anhaltende Bevölkerungsschwund, die EU-Osterweiterung und landwirtschaftliche Monokulturen das Land.
Literatur
- David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007, S. 33–96.
- Theodor Fontane: Das Oderbruch, in: ders.: Sämtlich Werke X. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zweiter Band: Das Oderland. Barnim–Lebus, München 1960, S. 20–43.
- Tony Le Tissier: Durchbruch an der Oder. Der Vormarsch der Roten Armee 1945, Berlin 1995.
Der Artikel wurde von Konrad Roenne verfaßt.