München – Schwabing

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
Version vom 26. Oktober 2016, 18:40 Uhr von Admin (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „Wo Wertvorstellungen ins Wanken und dadurch Zeitalter in Bewegung geraten, entstehen Zentren, in denen sich die Triebkräfte solcher Prozesse sammeln. Es sind…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Wo Wertvorstellungen ins Wanken und dadurch Zeitalter in Bewegung geraten, entstehen Zentren, in denen sich die Triebkräfte solcher Prozesse sammeln. Es sind die Inspirierten und die Suchenden, aus allen Teilen des Landes kommend, die Abenteurern gleich, unbekanntes Terrain erschließen wollen und dabei die Karten im großen Weltspiel der Lebensentwürfe neu zu mischen beginnen. Ein solches Zentrum bildete um 1900 der damals noch überschaubare Münchner Vorort Schwabing, die wohl am ergiebigsten sprudelnde Quelle der deutschen Kultur im sogenannten Fin de siècle. München »leuchtete« in jenen Jahren nicht nur, wie Thomas Mann metaphorisch bemerkte, der sich ebenfalls aufgemacht hatte, »um mit sonderbarer Sorglosigkeit das Wagnis eines Künstlerlebens einzugehen«, sondern München wuchs, und zwar in einem nie gekannten Ausmaß: Zählte die Stadt um 1850 noch 100 000 Einwohner, so stieg die Zahl um 1880 auf 230 000 und im Jahr 1900 auf fast 500 000 an. Ein Wachstum, das zum überwiegenden Teil aus Zuwanderung resultierte. Und so bestand die berühmte Boheme, die München »leuchten« ließ, fast durchweg aus Neu-Münchnern, zumeist protestantischen Preußen.

Die Geschichte kennt nur wenige Momente, in denen sich so viele und zugleich höchst unterschiedlich ausgerichtete Talente der Kunst und des Geistes an einem einzigen Ort zusammenfanden. Dadurch trafen die divergierendsten Weltbilder und Stilrichtungen aufeinander, die sich damals noch ganz frei von zivilgesellschaftlicher Selbstzensur entfalten konnten. Dennoch litt freilich auch die Münchner Boheme unter Zensur, die allerdings ausschließlich vom Staat ausging und sich zumeist nur dann einschaltete, nachdem Staat oder Kirche absichtsvoll gereizt worden waren, wodurch der Provokateur einen Skandal anregte und mit erhöhter Aufmerksamkeit rechnen durfte. So wurde Oskar Panizza wegen der Veröffentlichung seines berühmt-berüchtigten, antikatholischen Schauspiels Das Liebeskonzil 1895 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt – die mit Abstand höchste jemals im Kaiserreich verhängte Strafe wegen eines Meinungsdelikts –, und auch Frank Wedekind oder der Karikaturist Thomas Theodor Heine büßten ihre »Majestätsbeleidigung« mit halbjähriger Festungshaft. Damit waren die Autoren aber keineswegs sozial oder künstlerisch erledigt, sondern gehörten weiterhin oder jetzt erst recht zur kulturellen Avantgarde, selbst wenn sie aus der Haft gebrochen hervorgingen wie der hochsensible Panizza.

Eine solche Vielfalt der Denkrichtungen und individuellen Charaktere wurde in Deutschland später nie wieder erreicht – und auch nie wieder geduldet. Schwabing war damals ein Biotop des freien Denkens, eine Werkstatt der experimentellen wie der reaktionären Kunst, wobei die Grenzen zwischen den konträren Visionen oft fließend waren. Man bezeichnete den Ort als die große »Kunstfabrik des Reiches«, in der nicht nur bereits um 1890 über 3 000 Maler und Bildhauer, sondern kaum weniger Literaten, Philosophen, Lebensreformer (➞ Dresden – Hellerau, Monte Verità) oder Sozial-Utopisten ihrem oft sehr eigenwilligen Schaffen nachgingen. Darunter so illustre Namen wie: Stefan George, Erich Mühsam, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc, Alfred Kubin, Franz von Stuck, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Michael Georg Conrad, Franziska zu Reventlow, Marya Delvard, Albert Langen, Ludwig Thoma, Karl Wilhelm Diefenbach oder Gustav Gräser. Natürlich Thomas Mann, und später, ab 1915, auch Rainer Maria Rilke, oder, ab 1911, Oswald Spengler, nachdem dieser bereits 1901 in München studiert hatte. Daneben wurden dort zahlreiche Verlage und bedeutende Zeitschriften gegründet wie der Simplicissimus oder die Jugend, die dem Jugendstil seinen Namen gab.

In ihrem 1913 erschienenen Roman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil prägte Franziska zu Reventlow die Bezeichnung »Wahnmoching« für Schwabing und entzauberte damit gleichsam den legendären Ort, indem sie das oft Dekorativ-Aufgesetzte bis Grotesk-Lächerliche besonders des George-Kreises (➞ Palermo) karikierte. Denn »Wahnmoching« sei eigentlich gar kein Stadtteil, sondern ein Zustand, ein Lebensgefühlt: »Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen. « Als der Roman erschien, gingen die »goldenen Jahre« dieses Zustandes gerade zu Ende, und manche schwelgten bereits in Erinnerungen an die vergangene Größe jener Zeit. So beklagte sich Oswald Spengler über das seiner Meinung nach stark gesunkene Niveau der Kunstmetropole: »Der Literatendurchschnitt in München ist jammervoll. Was sich als Denker und Dichter breit macht, ist dumm, schmutzig und schäbig.« Und während er am Der Untergang des Abendlandes arbeitete, übertrug Spengler seinen Fatalismus auch auf München, dessen jüngste Vergangenheit er bereits nostalgisch zu verklären begann: »Mein München von 1900 schildern! Längst tot. Kunststadt, letzter Hauch von Ludwig I. Ewige Sehnsucht danach … Es war eine Zeit der Kultur: man las und dachte (Reclam, Insel, Kunstwart), heute kennt man nur noch Fußball und Saalschlachten. Amerikanismus. Damit war ich der letzte einer Reihe. Eine neue fängt nicht mehr an.«

Tatsächlich ging der alte Glanz spätestens mit dem Krieg verloren, und München wurde, ähnlich wie Berlin, zu einer Stadt der ideologischen Grabenkämpfe und der Putschversuche (➞ München: Feldherrnhalle). Was blieb, war der Mythos eines Ortes, an dem sich individuell, »modern « oder »antimodern«, und frei von Gängelung durch politische oder moralische Repression denken, schaffen und leben lasse.

Literatur

  • Dirk Heißerer: Wo die Geister wandern. Eine Topographie der Schwabinger Bohème um 1900, München 1993.
  • Wolfgang Martynkewicz: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945, Berlin 2009.
Der Artikel wurde von Frank Lisson verfaßt.