Enger – Widukinds Grab

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»Das war ein schwarzer Tag für Sachsenland, als Wittekind, ein tapferer König, von Kaiser Karl geschlagen wurde, bei Enger. Als er flüchtend gen Ellerbruch zog und nun alles, mit Weib und Kind, an den Furt kam und sich drängte, mochte eine alte Frau nicht weitergehen. Weil sie aber dem Feinde nicht lebendig in die Hände fallen sollte, so wurde sie von den Sachsen lebendig in einen Sandhügel bei Bellmanns- Kamp begraben; dabei sprachen sie: ›Krup under, krup under, de Welt is die gram, du kannst dem Gerappel nich mer folgen.‹ Man sagt, daß die alte Frau noch lebt. Nicht alles ist tot in Westfalen, was begraben ist.« Die Sätze stammen aus Heinrich Heines (➞ Loreley) Elementargeister und sind halb spöttisch, halb ernst gemeint. Halb spöttisch, weil der Dichter sich beim Verfassen des Buches längst von seinen früheren, ausgesprochen schwärmerisch-nationalen Vorstellungen losgesagt hatte; halb ernst, weil er zumindest ahnte, welches Potential nach wie vor in den alten Überlieferungen lag.

Tatsächlich ist das Wissen um Widukind oder Wittekind, den Sachsenherzog, der den Kampf gegen Karl den Großen (➞ Aachen) aufnahm, um die Unabhängigkeit seines Stammes zu erhalten und die »Schwertmission« des Frankenkönigs abzuwehren, durch die Jahrhunderte erstaunlich lebendig geblieben. Das gilt, obwohl über seine historische Person nur sehr wenig bekannt ist. Abgesehen davon, daß er zwischen 772 und 785 mehrere Aufstände gegen die Invasoren führte, schließlich scheiterte und sich taufen ließ, wissen wir fast nichts über ihn. Trotzdem darf man voraussetzen, daß er schon zu Lebzeiten als großer Held gefeiert wurde und später einer Geschichtspolitik als Bezug diente, die ihn zuerst von seiten seiner Nachfahren – der Wittekinde, die sich wieder eine Stellung zu erarbeiten hofften – als Heiligen reklamierte, ihn dann zum übermächtigen Ahn der sächsischen Könige und Kaiser aufsteigen und schließlich, seit der Wiederentdeckung der germanischen als deutscher Vergangenheit im 17. Jahrhundert, zum Heros des nationalen Kampfes um Selbstbestimmung werden ließ.

Abgesehen von einem gewissen regionalen, sehr stark kirchlich geprägten Kult um seine Person im Westfälischen (Wittekindsspende, Brauchtum der Sattelmeyer), von dem sich Spuren bis heute finden, war die letzte Deutung ohne Zweifel die wirkmächtigste. Von der Geschichtsschreibung im Vormärz bis zu Hermann Löns’ (➞ Lüneburger Heide) Roman Die rote Beeke, der das »Blutgericht von Verden« behandelt, entwickelte sich eine Auffassung von Widukind, die mit der borussischen, betont-protestantischen und jedenfalls antighibellinischen Richtung der Nationalbewegung zusammenfloß. Es war insofern nur konsequent, daß ein 1903 errichtetes Denkmal Widukinds die Gesichtszüge Kaiser Wilhelms I. (➞ Kyffhäuser) zeigte. Aufgestellt wurde das Monument vor der Kirche in der kleinen westfälischen Stadt Enger, zwischen ➞ Teutoburger Wald und Wiehengebirge, in deren Kirche die Gebeine Widukinds liegen sollen. Eine anthropologische Untersuchung der Skelettreste zeigte, daß zumindest nicht ausgeschlossen ist, daß es sich tatsächlich um die sterblichen Überreste des Sachsenführers handelt. Allerdings stammt der Sarkophag aus dem 14. Jahrhundert, und die wahrscheinlich im 11. Jahrhundert angefertigte (ursprünglich farbig gefaßte) Grabplatte läßt schon die mittelalterliche Umdeutung erkennen: Sie zeigt ihn mit Spangenhelm und Lilienszepter als »Priesterkönig«.

Relativ früh hat man in Enger ein Widukindmuseum errichtet, das der patriotischen Verehrung des Sachsenführers dienen sollte. Ein eher bescheidener Bau mit bescheidener Ausstattung, was nach der nationalsozialistischen Machtübernahme als so unbefriedigend erschien, daß man an eine Umgestaltung im großen Stil ging. Zwar korrigierte das Regime im Laufe der Zeit seine ursprüngliche Auffassung vom heroischen Kampf Widukinds gegen den (auch als rassisch minderwertig betrachteten) »Sachsenschlächter« Karl, aber die 1939 in Enger unter dem Schutz der SS eröffnete Widukind-Gedächtnisstätte erfüllte doch eine zentrale ideologische Funktion und diente ganz offensichtlich der Bestätigung einer radikal-völkischen und nicht zuletzt antichristlichen Tendenz in Teilen der NS-Elite.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man das Haus relativ rasch wiedereröffnet, ohne die Darstellung grundsätzlich zu verändern. Erst in den 1970er Jahren mehrten sich die kritischen Stimmen, was zur Schließung und Reorganisation im Jahr 1983 führte. Dabei wurden nicht nur die letzten Spuren des »Weiheraums« beseitigt, der früher das Zentrum der Gedächtnisstätte bildete, man nahm auch eine inhaltliche Umorientierung vor, die Widukind jeder nationalen Bedeutung zu entkleiden suchte. Verglichen damit, zeigt sich die letzte – 2008 durchgeführte – Neugestaltung eher versöhnlich und spricht dem großen Sachsen wenigstens mythenbildende Kraft zu.

Literatur

  • Wolfgang Balz: Die Widukind-Gedächtnisstätte im Spiegel nationalsozialistischer Ideologie, in: Stadt Enger – Beiträge zur Stadtgeschichte 2, Enger 1983, S. 17–40.
  • Gerhard Kaldewei: Das Widukind-Museum in Enger, Bielefeld 1987.
  • Kurt Dietrich Schmidt: Widukind, Göttingen 1935.
Der Artikel wurde von Karlheinz Weißmann verfaßt.