Dresden – Hellerau
Alle reformerischen und revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, unabhängig davon, ob sie auf politischem oder kulturellem Gebiet stattfanden, haben sich direkt oder indirekt mit den Folgen der Industrialisierung auseinandergesetzt. Das gilt auch für das menschliche Wohnen. Die Industrialisierung hatte die Städte anschwellen lassen und zu beengten, ungesunden und ästhetisch wenig ansprechenden Wohnverhältnissen geführt. Gegen diese Entwicklung wandte sich Ende des 19. Jahrhunderts die in England aufgekommene Gartenstadtbewegung. Das Schlagwort der späteren Bauhäusler nach Licht, Luft und Sonne für jedermann wurde hier bereits vorweggenommen. Ein theoretisches Fundament erhielt die Gartenstadtbewegung durch Ebenezer Howards Schrift Tomorrow (1898). Howards mit sozialpolitischen Zielsetzungen konzipierter Stadttypus ist eine mit Grünanlagen durchzogene Siedlung in der Nähe überbevölkerter Großstädte, ausgestattet mit Wohnraum, Gärten, öffentlichen Gebäuden, Märkten, Lagerhallen und umweltverträglicher Industrie. Mit der Gartenstadt sollte sowohl das übermäßige Wachstum der Städte als auch die Landflucht gebremst werden. Neben der sozialpolitischen Komponente trat aber von Anbeginn auch eine ästhetische hinzu: Die Gartenstadtbewegung verstand sich zugleich als eine Gegenströmung zur planlosen Zersiedelung und fortschreitenden Verhäßlichung.
In Deutschland sorgten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vor allem zwei von der Gartenstadtidee geprägte Siedlungen für Aufsehen: die Margarethenhöhe in ➞ Essen (ab 1906) und Hellerau bei Dresden (ab 1908). Aber während es bei der Margarethenhöhe in Essen vorrangig darum ging, eine Siedlung für die Arbeiter der nahegelegenen Krupp-Werke mit hygienischen und ansprechenden Wohnungen zu schaffen, führte Hellerau noch einen Schritt weiter: Hier entstanden Arbeitsplätze, Wohnungen, Reformschulen, Geschäfte, Sozialeinrichtungen und dazu noch, als besonderer Glanzpunkt: ein Musentempel. Die Initiative dazu ging von dem Möbelfabrikanten Karl Schmidt (1873–1948) aus.
Schmidt hatte 1898 in Dresden die »Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst « gegründet. Berühmt wurden seine Werkstätten vor allem aufgrund der ersten industriellen Möbelfertigung Deutschlands. Diese brachte ebenso zweckmäßige wie formschöne Möbel hervor, die u. a. den Grand Prix auf der Pariser Weltausstellung 1900 sowie 1904 eine Auszeichnung auf der Weltausstellung in St. Louis errangen. Für seine expandierende Möbelproduktion, in der bereits nach wenigen Jahren über 250 Mitarbeiter tätig waren, benötigte Schmidt bald größere Räumlichkeiten. Er suchte außerhalb von Dresden nach einem neuen Fabrikstandort und fand ihn am Heller auf den Fluren von Rähnitz und Klotsche, etwa sechs Kilometer nördlich von der Dresdner Altstadt gelegen. Bis 1907 erwarb Schmidt ein Gelände von 140 Hektar Größe. Aber Schmidt wollte nicht nur ein neues Fabrikgebäude errichten – eine komplette Gartenstadt mit Vorbildcharakter sollte es werden. Der Politiker Friedrich Naumann unterstützte ihn darin. Kongeniale Verbündete fand Schmidt dabei in dem weltläufigen Sozial- und Kunstreformator Wolf Dohrn (1878–1914) sowie in seinem Schwager, dem Maler und Architekten Richard Riemerschmid (1868–1957). Am 4. Juni 1908 wurde die gemeinnützige Gesellschaft »Gartenstadt Hellerau GmbH« gegründet und knapp ein Jahr später, am 1. April 1909, konnte der Grundstein für die Gartenstadt und den Fabrikbau gelegt werden; bereits im Frühjahr 1910 erfolgte die Verlegung der Produktion nach Hellerau.
Riemerschmid gliederte die Gartenstadt in das Fabrikgelände, dessen Hauptgebäude die symbolische Form einer »Schraubzwinge « erhielt, in ein Areal für den Kleinhausbau, eines für den Landhausbau sowie eines für Wohlfahrtseinrichtungen. Die restliche Fläche war als öffentlicher Raum gedacht. Die Straßen folgen dabei dem bewegten Gelände. Neben Riemerschmid bauten noch weitere Architekten für Hellerau, so Hermann Muthesius und Heinrich Tessenow. Bis 1913, als Riemerschmid aus der Gemeinschaft der Gründer ausschied, hatte die Gartenstadt mit 387 Häusern eine einprägsame Kontur gewonnen. Obgleich nur künstlerisch bedeutsame Architekten am Bau von Hellerau beteiligt waren, gab es noch eine gesonderte Bau- und Kunstkommission, die über die künstlerische Qualität der Planungen wachte, zu ihr gehörten u. a. die Architekten Theodor Fischer, Hans Poelzig, Fritz Schumacher und der Bildhauer Adolf von Hildebrand. Will man die Bauten von Hellerau stilistisch einordnen, so kann man sie – weit gefaßt – dem Heimatstil zurechnen. Heimatstil nicht in dem Sinne, daß hier ein tradierter Regionalstil 1:1 wiedergegeben wurde, sondern daß hier eine Kleinstadt entstanden ist, die sich der Eigenart der Landschaft einfügte und ihren Bewohnern, die zuvor nach ihren Bedürfnissen und Wohnwünschen gefragt wurden, tatsächlich eine Heimat bot. Der stattlichste Bau von Hellerau, das Festspielhaus, huldigte hingegen einem spartanischen Klassizismus.
Ausgerechnet an diesem 1911–12 von Heinrich Tessenow gebauten Festspielhaus entzündete sich ein Streit zwischen den beteiligten Architekten. Riemerschmid und Muthesius empfanden den betont schlichten Bau von Tessenow als unpassend. Beide beendeten daraufhin ihre Mitarbeit. Gleichwohl war es das Festspielhaus und die darin abgehaltenen Festspiele, die Hellerau einen internationalen Ruf als Kulturzentrum und Künstlerkolonie einbrachten, was nicht zuletzt auf das Verdienst von Karl Schmidts Mitarbeiter Wolf Dohrn zurückging, der auch die »Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik « gründete. Als deren Leiter konnte er den Schweizer Tanz- und Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze (1865–1950) gewinnen. Die Ideen von Jaques-Dalcroze und des Bühnenbildners Adolphe Appia (1862–1928) führten auch zu einer neuartigen funktionalen Raumaufteilung innerhalb des Festspielhauses, die wegweisend für den modernen Theaterbau wurde. Vor dem wuchtigen Festspielhaus legte Tessenow einen brunnenbestandenen Vorplatz an, der von pavillonartigen Pensionshäusern eingefaßt wird. Rückwärtig errichtete er eine Freiluftarena mit umlaufenden Licht- und Sonnenhöfen. Die Schlichtheit und Einfachheit, die generell für Tessenows Bauten gilt, führte dazu, daß einige Apologeten der Moderne in ihm einen Vorläufer ihrer Stilrichtung erblickten. Tatsächlich trifft dieses »Lob« auf Tessenow jedoch nur sehr bedingt zu; denn im Gegensatz zu den Vertretern der Moderne hat er nie mit der Tradition gebrochen. Seine Bauten definieren sich vielmehr gerade durch das Verarbeiten von überlieferten Bauvorstellungen. Das gilt auch für den kargen, streng symmetrisch aufgebauten Klassizismus seines Festspielhauses.
Das »Goldene Zeitalter« Helleraus währte nur kurz. Bereits 1914 starb der umtriebige Wolf Dohrn. Im gleichen Jahr brach der Erste Weltkrieg aus. Riemerschmid und Muthesius waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschieden. 1919 wurde Hellerau mit der Nachbargemeinde Rähnitz zusammengelegt und erhielt zunächst den Namen Rähnitz-Hellerau, ab 1938 hieß der Doppelort nur noch Hellerau. In den zwanziger und dreißiger Jahren folgten noch einige bauliche Veränderungen, u. a. 1934 der Bau einer Holzhaus-Mustersiedlung nach Plänen von Oswin Hempel und Eugen Schwemmle. Finanzielle Schwierigkeiten der Gartenstadtgesellschaft zwangen 1923 zum Verkauf eines Teils der Kleinhäuser an Privatleute. 1929/30 erfolgte eine ergänzende Marktplatzbebauung durch Rudolf Kolbe mit dreigeschossigen Wohnbauten, die allerdings nur wenig Rücksicht auf die Gartenstadt nehmen. Während der Ära des Nationalsozialismus sollte Hellerau zu einem »Bayreuth des völkischen Dramas« und einer »Weihebühne« für die Aufführung völkischer Theaterstücke erhoben werden. Doch die Realität gestaltete sich weitaus prosaischer: Nach einigen Umbauten, dem Teilabriß der Pensionshäuser und dem Anbau von Kasernenflügeln diente der Festspielhausbereich schließlich als Polizeischule. Nach 1945 versank dieser Teil Helleraus für die Außenwelt über Jahrzehnte in einen Dornröschenschlaf: Die Sowjetarmee übernahm das Gelände, das sie als Lazarett, Sporthalle und Kulturhaus nutzte. Am 1. Juli 1950 wurde Hellerau als Stadtteil von Dresden eingemeindet.
Helleraus Wiedererwachen begann mit der Wende und dem Abzug der Russen 1992. Zunächst bedurfte die marode Bausubstanz einer gründlichen Renovierung. 2006 konnte das Festspielhaus wiedereröffnet werden und ist seitdem Heimstätte des »Europäischen Zentrums der Künste Hellerau«. Eine umfangreiche Ausstellung zur Gründung, Geschichte und aktuellen Entwicklung Helleraus ist seit demselben Jahr als Dauerausstellung im Kasernenflügel West auf dem Festspielgelände zu sehen. Die »Deutschen Werkstätten Hellerau « knüpfen in neuen Werkhallen wieder an ihre alten handwerklichen Traditionen an und sind international erfolgreich im hochwertigen Innenausbau tätig, während in den alten, von Riemerschmid errichteten Werkstattgebäuden mehrere Unternehmen ihren Firmensitz gefunden haben. Ganz Hellerau ist heute ein Flächendenkmal. Darüber hinaus hat die Gartenstadt nach der Wende mit einer – für heutige Verhältnisse – ansprechenden Architektur eine Erweiterung erfahren.
Literatur
- Claudia Beger: Gartenstadt Hellerau. Architekturführer, München 2008.
- Wolf Dohrn: Die Gartenstadt Hellerau und weitere Schriften, Dresden 1992.
- Michael Fasshauer: Das Phänomen Hellerau. Die Geschichte einer Gartenstadt, Dresden 1997.
- Sigrid Hofer: Reformarchitektur 1900–1918. Deutsche Baukünstler auf der Suche nach dem nationalen Stil, Stuttgart 2005.
- Ralph Lindner/Hans-Peter Lühr (Hrsg.): Gartenstadt Hellerau. Die Geschichte ihrer Bauten, Dresden 2008.
- Hans-Jürgen Sarfert: Hellerau. Die Gartenstadt und Künstlerkolonie, Dresden 1995.
Der Artikel wurde von Norbert Borrmann verfaßt.