Reden an die deutsche Nation: Unterschied zwischen den Versionen

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Eine Nation sind die Deutschen nicht. Fichte schwebt als Paradigma vor allem das föderierte Reich als einer »Völker-Republik« vor, und er betont sogar, daß es nichts zur Sache tut, ob der deutsche Staat in einem oder in mehreren erscheint. Grundlegend für die Fundierung des Wesens einer Nation ist in jedem Fall die Sprache. Die deutsche Sprache eröffnet, im Unterschied zu den nur geistreichen, aber im letzten toten Sprachen der romanischen Welt, den Zugang zur Ideenwelt, zu Verbesserlichkeit des Menschen und Freiheit. In der zentralen sechsten Rede betont Fichte, daß die deutsche Geschichte eine Geschichte der Freiheit und des Republikanismus ist. Dies ist eine dezidiert anti-römische, protestantische, auf Luther zentrierte, von den Reichsstädten gegen den Zentralismus gerichtete Geschichtsauffassung. Auch Napoleon wird von Fichte jede höhere Legitimation abgesprochen. Er ist ein »Namenloser«, weder legitimer Kaiser noch Erbe der Republik. Mit Kant bleibt Fichte auf der Linie eines Ausgleichs von Patriotismus und Kosmopolitismus. Gerade die Defensivpolitik des Reiches im Unterschied zu den kolonialen Ausgriffen der romanischen Nationen hebt Fichte hervor. In diesem Sinne ist auch sein Votum für die Wahl- und gegen die Erbmonarchie zu verstehen.
Eine Nation sind die Deutschen nicht. Fichte schwebt als Paradigma vor allem das föderierte Reich als einer »Völker-Republik« vor, und er betont sogar, daß es nichts zur Sache tut, ob der deutsche Staat in einem oder in mehreren erscheint. Grundlegend für die Fundierung des Wesens einer Nation ist in jedem Fall die Sprache. Die deutsche Sprache eröffnet, im Unterschied zu den nur geistreichen, aber im letzten toten Sprachen der romanischen Welt, den Zugang zur Ideenwelt, zu Verbesserlichkeit des Menschen und Freiheit. In der zentralen sechsten Rede betont Fichte, daß die deutsche Geschichte eine Geschichte der Freiheit und des Republikanismus ist. Dies ist eine dezidiert anti-römische, protestantische, auf Luther zentrierte, von den Reichsstädten gegen den Zentralismus gerichtete Geschichtsauffassung. Auch Napoleon wird von Fichte jede höhere Legitimation abgesprochen. Er ist ein »Namenloser«, weder legitimer Kaiser noch Erbe der Republik. Mit Kant bleibt Fichte auf der Linie eines Ausgleichs von Patriotismus und Kosmopolitismus. Gerade die Defensivpolitik des Reiches im Unterschied zu den kolonialen Ausgriffen der romanischen Nationen hebt Fichte hervor. In diesem Sinne ist auch sein Votum für die Wahl- und gegen die Erbmonarchie zu verstehen.
{{Zitat|Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, sowie mit ihren Mängeln ist versunken, durch die eigene Unwürde, und durch die Gewalt eurer Väter. Ist in dem, was in diesen Reden dargelegt worden, Wahrheit, so seid unter allen neueren Völkern ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt, und denen der Vorschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen ist. Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zugrunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zugrunde.}}
Es liegt daher auch ein kosmopolitisches Moment darin, daß Fichte bemerkt, die deutsche Nation, sofern sie sich aus der Vernunftwissenschaft neu begründet, könne »Wiedergebährerin und Wiederherstellerin der Welt sein«. Verpflichtungscharakter und Sendungsbewußtsein liegen hier in engster Nachbarschaft. Von hier her begreift er die Nation als das »irdisch Ewige«, als Abbild der überzeitlichen Welt in der zeitlichen.
Augenfällig ist auch, daß die Reden eine defensive und föderale Politik den imperialen und kolonisierenden Tendenzen der Romania entgegensetzen. Mit ideologiekritischen Klagen und einzelnen Zitaten wie, daß Charakter haben und deutsch zu sein identisch sei, kommt man dem Rang der Fichteschen Reden, der praktischen Kehrseite von Fichtes Wissenschaftslehren, nicht nahe. Wie Reinhard Lauth zutreffend bemerkt hat, wird Fichte dem Prinzip des Vernunftstaates keineswegs untreu. Seine Idee des Wiederaufstiegs der deutschen Nation hat nichts Reaktives an sich, sie ist auch frei von der romantischen Idee einer Wiederherstellung des Mittelalters oder der Konzeption des Wiener Kongresses. Nur auf dem Fundament der Vernunftwissenschaft kann vielmehr diese Erneuerung geschehen.
Es bedarf kaum näherer Erörterung, daß Fichtes Reden einer der Grundtexte deutschen Patriotismus und Nationalismus sind, gleichermaßen klassisch in der Burschenschaft, in der akademischen Welt des Kaiserreichs und maßgeblich für die »Ideen von 1914«. Der zumindest indirekte Einfluß auf die preußischen Reformer steht außer Frage. Carl Schmitt hat deshalb zu Recht bemerkt, daß Fichte »den Geist der deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon geprägt [hat], jedenfalls soweit es sich um Preußen handelt«. Emphatische Berufungen findet man sowohl bei Treitschke wie bei Lassalle. Nicht zu vergessen ist, daß Fichtes Reden für den modernen Zionismus eine der wichtigsten Referenzen bedeuten. Eine bewegende Schilderung ihrer unmittelbaren Wirkung gibt Fontane in seinem Romanepos Vor dem Sturm (1878). Zuletzt hat Bernard Willms versucht, Fichtes »nationalen Imperativ« für eine rechte Neubegründung der Nation fruchtbar zu machen. Selten wurden die Reden aber in ihrer ganzen Tiefe und im Zusammenhang mit Fichtes Vernunftwissenschaft begriffen. Dies gilt um so mehr für die heute gängige ideologiekritische Lesart. Nachdem in der Nachkriegszeit eine umfassende editorische und wissenschaftliche Rekonstruktion von Fichtes theoretischer und praktischer Philosophie eingesetzt hat, ist es an der Zeit, auch seinem Begriff von Staat und Nation die abwägende Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdient.
== Ausgabe ==
* Mit einer Einleitung von Alexander Aichele, Hamburg: Meiner 2008.
== Literatur ==
* Karl Hahn: ''Staat, Erziehung und Wissenschaft bei J. G. Fichte'', München 1969.
* Peter L. Oesterreich: ''Politische Philosophie oder Demagogie? Zur rhetorischen Metakritik von Fichtes Reden an die deutsche Nation'', in: ''Fichte-Studien'' 2 (1990).
* Bernard Willms: ''Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie'', Köln/Opladen 1967.
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Version vom 23. Februar 2017, 15:18 Uhr

Reden an die deutsche Nation.
Johann Gottlieb Fichte, Berlin: Realschulbuchhandlung 1808.
Johann Gottlieb Fichte (1762–1814)

Fichtes Reden sind einerseits in der Zeit der preußischen Niederlage und Erniedrigung als zentraler Beitrag zu Preußens Erneuerung angelegt. Gehalten wurden die Vorlesungen im Winter 1807/08 in Berlin, als es unter französischer Besatzung stand. Zugleich wollen sie aber der eigenen Zeit ihren verborgenen Sinn im Weltplan aufschlüsseln, und dies nicht nur für diese Zeit selbst, sondern im Sinne des sich selbst begründenden Denkens der Wissenschaftslehre. Jede nur kontextuelle Lesart greift also zu kurz. Ebenso wichtig ist es, zu bemerken, daß Fichte unter den großen Geistern seiner Zeit der vielleicht entschiedenste Parteigänger der Französischen Revolution war. Die Begründung des Vernunftprinzips der Revolution hielt Fichte freilich für empirisch willkürlich. Man könne gar nicht, so Fichte in einem Brief an Reinhold, schlechter von den revolutionären Franzosen und ihren Parteigängern denken als er selbst. »Aber es ist leider dahin gekommen, daß jeder Biedermann wünschen muß, daß so schlimm auch die Praxis derselben ist, sie doch um ihrer Principien willen, den Sieg davon tragen möchten.« Fichte betont, daß die Nationalerziehung nur auf der Grundlage einer Absonderung der künftigen Generationen von dem »Gemeinen« der Gegenwart gelingen kann. Zugleich sieht er aber die vornehmste Aufgabe der gebildeten Stände darin, eben zu dieser Bildung beizutragen.

Aus der Niederlage kann, so betont Fichte, nur eine ganz neue Ordnung der Dinge führen, was zugleich bedeutet, daß an die Stelle alter Eigensucht die Erziehung der Nation zu einem »allgemeinen Selbst« treten muß. Die Erziehungskonzeption, die ganz in der Tradition der Platonischen paideia zu sehen ist, hat zu ihrem Ziel, »einen festen und nicht weiter schwankenden Willen« hervorzubringen. Zu diesem Zweck muß der Zögling nicht nur angeredet, er muß so »gemacht« werden, daß er nicht anders wollen kann, als gemäß dem Grundgesetz der geistigen Natur zu handeln.

Scharfer Kritik unterzieht Fichte auch das traditionelle Christentum mit seiner Überbetonung der Sünde, und er fordert als Kern der Religion die Einsicht in das, was der »reine Wille in seinem Grund und Wesen selber sei«.

Zum preußischen Patrioten wurde Fichte erst aus Not. Die Begründung der Prinzipien aus dem Geist der Freiheit und eine nationalpädagogische Erneuerung gemäß diesem Prinzip ist nach Fichte die eigentliche Aufgabe der Deutschen. Geschichtsphilosophisch bedeutet dies, nachdem die alte Identität aus der geistigen Natur an das Räsonnement, ein »Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit«, verloren ist, die Eröffnung eines neuen, dritten Reiches. Die Aufklärungsepoche ist nach Fichte die Epoche der Selbstsucht. Sie trägt zwar die Form der Wissenschaft, nichts gelten zu lassen, was sie nicht begreift. Doch ihr alleiniger Maßstab ist ein »bloß empirische[r] Erfahrungsbegriff« ohne höheren Horizont.

Während im Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit Glaube und Verstand in einen Widerstreit treten, der Verstand den Glauben aufhebt, wird auf der Stufe des grundlegenden Wissens der Glaube vom Verstand bestätigt werden, und es wird (dies eine sprechende Parallele zu Hegel) sich nur die Form, nicht der Inhalt unterscheiden.

Eine Nation sind die Deutschen nicht. Fichte schwebt als Paradigma vor allem das föderierte Reich als einer »Völker-Republik« vor, und er betont sogar, daß es nichts zur Sache tut, ob der deutsche Staat in einem oder in mehreren erscheint. Grundlegend für die Fundierung des Wesens einer Nation ist in jedem Fall die Sprache. Die deutsche Sprache eröffnet, im Unterschied zu den nur geistreichen, aber im letzten toten Sprachen der romanischen Welt, den Zugang zur Ideenwelt, zu Verbesserlichkeit des Menschen und Freiheit. In der zentralen sechsten Rede betont Fichte, daß die deutsche Geschichte eine Geschichte der Freiheit und des Republikanismus ist. Dies ist eine dezidiert anti-römische, protestantische, auf Luther zentrierte, von den Reichsstädten gegen den Zentralismus gerichtete Geschichtsauffassung. Auch Napoleon wird von Fichte jede höhere Legitimation abgesprochen. Er ist ein »Namenloser«, weder legitimer Kaiser noch Erbe der Republik. Mit Kant bleibt Fichte auf der Linie eines Ausgleichs von Patriotismus und Kosmopolitismus. Gerade die Defensivpolitik des Reiches im Unterschied zu den kolonialen Ausgriffen der romanischen Nationen hebt Fichte hervor. In diesem Sinne ist auch sein Votum für die Wahl- und gegen die Erbmonarchie zu verstehen.

»Die alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, sowie mit ihren Mängeln ist versunken, durch die eigene Unwürde, und durch die Gewalt eurer Väter. Ist in dem, was in diesen Reden dargelegt worden, Wahrheit, so seid unter allen neueren Völkern ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten liegt, und denen der Vorschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen ist. Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zugrunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zugrunde.«

Es liegt daher auch ein kosmopolitisches Moment darin, daß Fichte bemerkt, die deutsche Nation, sofern sie sich aus der Vernunftwissenschaft neu begründet, könne »Wiedergebährerin und Wiederherstellerin der Welt sein«. Verpflichtungscharakter und Sendungsbewußtsein liegen hier in engster Nachbarschaft. Von hier her begreift er die Nation als das »irdisch Ewige«, als Abbild der überzeitlichen Welt in der zeitlichen.

Augenfällig ist auch, daß die Reden eine defensive und föderale Politik den imperialen und kolonisierenden Tendenzen der Romania entgegensetzen. Mit ideologiekritischen Klagen und einzelnen Zitaten wie, daß Charakter haben und deutsch zu sein identisch sei, kommt man dem Rang der Fichteschen Reden, der praktischen Kehrseite von Fichtes Wissenschaftslehren, nicht nahe. Wie Reinhard Lauth zutreffend bemerkt hat, wird Fichte dem Prinzip des Vernunftstaates keineswegs untreu. Seine Idee des Wiederaufstiegs der deutschen Nation hat nichts Reaktives an sich, sie ist auch frei von der romantischen Idee einer Wiederherstellung des Mittelalters oder der Konzeption des Wiener Kongresses. Nur auf dem Fundament der Vernunftwissenschaft kann vielmehr diese Erneuerung geschehen.

Es bedarf kaum näherer Erörterung, daß Fichtes Reden einer der Grundtexte deutschen Patriotismus und Nationalismus sind, gleichermaßen klassisch in der Burschenschaft, in der akademischen Welt des Kaiserreichs und maßgeblich für die »Ideen von 1914«. Der zumindest indirekte Einfluß auf die preußischen Reformer steht außer Frage. Carl Schmitt hat deshalb zu Recht bemerkt, daß Fichte »den Geist der deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon geprägt [hat], jedenfalls soweit es sich um Preußen handelt«. Emphatische Berufungen findet man sowohl bei Treitschke wie bei Lassalle. Nicht zu vergessen ist, daß Fichtes Reden für den modernen Zionismus eine der wichtigsten Referenzen bedeuten. Eine bewegende Schilderung ihrer unmittelbaren Wirkung gibt Fontane in seinem Romanepos Vor dem Sturm (1878). Zuletzt hat Bernard Willms versucht, Fichtes »nationalen Imperativ« für eine rechte Neubegründung der Nation fruchtbar zu machen. Selten wurden die Reden aber in ihrer ganzen Tiefe und im Zusammenhang mit Fichtes Vernunftwissenschaft begriffen. Dies gilt um so mehr für die heute gängige ideologiekritische Lesart. Nachdem in der Nachkriegszeit eine umfassende editorische und wissenschaftliche Rekonstruktion von Fichtes theoretischer und praktischer Philosophie eingesetzt hat, ist es an der Zeit, auch seinem Begriff von Staat und Nation die abwägende Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdient.

Ausgabe

  • Mit einer Einleitung von Alexander Aichele, Hamburg: Meiner 2008.

Literatur

  • Karl Hahn: Staat, Erziehung und Wissenschaft bei J. G. Fichte, München 1969.
  • Peter L. Oesterreich: Politische Philosophie oder Demagogie? Zur rhetorischen Metakritik von Fichtes Reden an die deutsche Nation, in: Fichte-Studien 2 (1990).
  • Bernard Willms: Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie, Köln/Opladen 1967.
Der Artikel wurde von Harald Seubert verfaßt.