Ernst-Wolfgang Böckenförde: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 10. Oktober 2017, 12:31 Uhr
- Böckenförde, Ernst-Wolfgang,
- geb. 19. September 1930 Kassel.
Als Professor für Öffentliches Recht in Bielefeld und Freiburg (Breisgau) und als Bundesverfassungsrichter zählt Ernst-Wolfgang Böckenförde zu den führenden Intellektuellen der Bundesrepublik. Er ist praktizierender Katholik und Mitglied der SPD. Seit seinem Studium der Rechtswissenschaften gehörte er zu dem engeren Umfeld von Carl Schmitt, für dessen Rezeption in der Bundesrepublik er sich wirkungsvoll einsetzte.
Aus der Familie eines westfälischen katholischen Forstbeamten stammend, verlor Böckenförde als Schüler durch einen Straßenbahnunfall einen Unterschenkel. Er studierte seit 1950 Geschichte und Rechtswissenschaften in Münster, wo er einer katholischen Studentenverbindung angehörte, und München. Dort gehörte Böckenförde zu den letzten Schülern des liberalen katholischen Historikers Franz Schnabel und wurde bei diesem 1953 mit einer verfassungshistorischen Arbeit zum Dr. phil. promoviert. Bei dem Münsteraner Verwaltungsrechtler Hans-Julius Wolff wurde er im gleichen Jahr mit einer Arbeit über »Gesetz und gesetzgebende Gewalt« zum Dr. iur. promoviert. Während seiner Assistentenzeit in Münster gehörte er dem Collegium Philosophicum des Philosophen Joachim Ritter an, über das auch Kontakt zu Carl Schmitt hergestellt wurde. Wiederholt besuchte Böckenförde Schmitt in Plettenberg, der Kontakt dauerte bis zu Schmitts Tod. Böckenfördes Bruder, der Kanonist, Priester und Ratzinger-Schüler Werner Böckenförde, beerdigte 1985 Carl Schmitt in Plettenberg.
rganisationsrecht in Münster habilitiert, wurde Böckenförde im gleichen Jahr auf Betreiben von Ernst Forsthoff und Hans Schneider nach Heidelberg auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Verfassungsund Rechtsgeschichte sowie Rechtsphilosophie berufen. 1969 folgte ein Ruf auf einen gleichen Lehrstuhl an der neugegründeten Juristischen Fakultät der »Reformuniversität« Bielefeld, deren Konzeption von Helmut Schelsky und Hermann Lübbe stammte. Seit 1977 war Böckenförde Professor für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht und Rechtsphilosophie in Freiburg im Breisgau, wo er über seine Emeritierung 1990 hinaus prägend lehrte.
In den sechziger Jahren wurde Böckenförde als katholischer Intellektueller bekannt, der die Rolle seiner Kirche im Nationalsozialismus kritisch hinterfragte. Aus der Zeit bei Joachim Ritter bestanden Kontakte zu konservativen katholischen Intellektuellen wie Robert Spaemann. In einem Ebracher Ferienseminar von Ernst Forsthoff formulierte Böckenförde im Oktober 1964 in einem Vortrag, der 1967 in der Forsthoff-Festschrift abgedruckt wurde, erstmals sein berühmtes »Böckenförde-Diktum« von den Voraussetzungen des säkularen Staates. Auf Vorschlag der SPD wurde der Sozialdemokrat Böckenförde 1983 zum Bundesverfassungsrichter gewählt (bis 1996); es handelte sich um den ersten Bundesverfassungsrichter (»Nachkriegsschüler«) aus dem engeren Umfeld von Carl Schmitt.
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.«
Böckenförde setzte sich früh für eine »demokratische« Rezeption Carl Schmitts innerhalb der Rechtsordnung des Grundgesetzes ein. Er gehörte 1962 mit Roman Schnur zu den Begründern der Zeitschrift Der Staat, die ein konservatives Gegengewicht zu dem Archiv des öffentlichen Rechts bilden sollte und von Anfang an auch als ein Forum für Carl Schmitt gedacht war. Zu Beginn seiner Vorlesungstätigkeit in Freiburg hielt Böckenförde 1978 eine Carl Schmitt gewidmete Rede über den »verdrängten Ausnahmezustand«. Bei dem von Helmut Quaritsch veranstalteten ersten wissenschaftlichen Symposion zu Carl Schmitt, 1986 in Speyer, hielt Böckenförde das Referat »Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts«. Auch in Interviews und Zeitungsartikeln nimmt Böckenförde immer wieder zu rechtspolitischen und gesellschaftlichen Fragen Stellung, in den letzten Jahren etwa auch zum (von ihm abgelehnten) möglichen EU-Beitritt der Türkei.
Schriften
- Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1964.
- Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976.
- Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1991.
- Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 1991.
- Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1999.
- Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007.
Literatur
- Ernst-Wolfgang Böckenförde/Dieter Gosewinkel: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, Berlin 2011.
- Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004.
- Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009.
Der Artikel wurde von Martin Otto verfaßt.