Was ist eine Nation?

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Was ist eine Nation? (frz. Qu’est-ce qu‘une nation?, Paris 1882) Vortrag an der Sorbonne am 11. März 1882,
Ernest Renan, in: Michael Jeismann/Henning Ritter (Hrsg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig: Reclam 1993, S. 290–311.

Ernest Renan machte sich vor allem als Religionswissenschaftler einen Namen. Dieses Büchlein, das in Frankreich längst als Klassiker gilt, erschien erst mit beinahe 120 Jahren Verspätung in deutscher Sprache. Der Text ist immer wieder als Beispiel für ein typisch französisches, will heißen: rein historisch und politisch konzipiertes, Verständnis von Nation gelesen worden. Diesem wird dann der deutsche Begriff einer eher kulturell und ethnisch definierten Nation gegenübergestellt – ein Gegensatz, der weitgehend jenem zwischen demos und ethnos entspricht. Wer aber Renans Gedankengänge auf diese plakative Formel reduziert, kennt in der Regel nur die am häufigsten zitierten Passagen seiner Rede.

Sie in ihrer Gesamtheit zu lesen, heißt zu begreifen, daß ihr Inhalt sich nicht auf die berühmt gewordene Formulierung beschränkt, der zufolge die Nation ein täglicher Volksentscheid, ein »plébiscite de tous les jours« sei. Anstelle der voluntaristischen Vorstellung von einer Nation, die ihre Mitglieder einzig auf der Grundlage eines wie auch immer gearteten »Verfassungspatriotismus « vereint, legt Renan größten Wert auf den Fortbestand des Vergangenen im Gegenwärtigen. »Die Ahnen «, schreibt er, »die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind, eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet.« Jedoch sei eine noch so ruhmvolle Vergangenheit nichts ohne den Willen der Heutigen, sie fortzusetzen, zu beerben, indem man ihr neue Formen verleiht: »Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. « Eben dadurch dient sie dem »gemeinsamen Werk der Zivilisation«.

Man sollte dabei nicht vergessen, daß der gebürtige Bretone Renan sich zeit seines Lebens der »keltischen Seele«, wie er sagte, verbunden fühlte. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France sprach er über die Unterschiede zwischen der »Wüstenpsyche« der semitischen Völker (»die Wüste ist monotheistisch«) und der »Waldpsyche«, die er hinter dem indoeuropäischen Polytheismus ausmachte.

»Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.«

Renan unterschied deutlich zwischen dem historisch relativ jungen Nationalitätenprinzip und dem »Rassenprinzip«. In unserer Epoche, so Renan, gebe es keine reinen Rassen mehr, weswegen die »Völkerkunde« auch niemals die Soziologie oder die Politologie ersetzen könne (»die menschliche Geschichte unterscheidet sich wesentlich von der Zoologie«): »Die edelsten sind jene Länder – England, Frankreich, Italien –, bei denen das Blut am stärksten gemischt ist. Ist Deutschland in dieser Hinsicht eine Ausnahme? Ist es ein rein germanisches Land? Welche Illusion! Der ganze Süden war gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch.« Eine gemeinsame Sprache begünstigt zwar die Vereinigung, ohne sie jedoch zu erzwingen: »Die Sprache lädt dazu ein, sich zu vereinen; sie zwingt nicht dazu. Die Vereinigten Staaten und England, das spanische Amerika und Spanien sprechen dieselbe Sprache und bilden doch keine Nation. Im Gegenteil, die Schweiz, die so wohlgelungen ist, weil sie durch Übereinkunft ihrer verschiedenen Teile entstand, zählt drei oder vier Sprachen. Beim Menschen gibt es etwas, was der Sprache übergeordnet ist: den Willen.«

Zehn Jahre zuvor, in der Folge der französischen Niederlage von 1871, vertrat Renan in La réforme intellectuelle et morale (1875) noch weitaus konservativere Positionen, bis hin zu einer Rückbesinnung auf die Tugenden von Monarchie und Feudalgesellschaft, als er das in Was ist eine Nation? getan hat.

Ausgabe

  • Einzelausgabe, Hamburg: EVA 1996.

Literatur

  • Edouard Richard: Ernest Renan. Penseur traditionaliste?, Aix-en-Provence 1996.
Der Artikel wurde von Alain de Benoist verfaßt.