Volk

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Volk ist, was folgt, das heißt der Begriff bezog sich ursprünglich auf ein Gefolge, eine Gefolgschaft nicht nur militärischen Charakters, die sich einem Herrn anschloß. Damit ist allerdings die Menge der Entstehungsmöglichkeiten eines Volkes nicht erschöpft. Es müßte im Rahmen der Ethnogenese – »Volkwerdung« – noch hingewiesen werden auf die »Urvölker« und auf Völker, die durch Zusammenschluß entstehen. Die oft mit dem Begriff Volk verbundene Vorstellung, daß Völker auf gemeinsame Abstammung im strengen Sinn zurückgeführt werden können, ist allerdings falsch. Vielmehr ist darauf zu verweisen, daß Völker historische Größen sind und nicht ohne organisatorischen Eingriff – als quasinatürliche Größen – entstehen.

»Völker« als vorpolitische, ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Einheiten, sind eine seit der Antike bekannte Größe. Der ethnos oder genos im Griechischen etwa, konnte durchaus die staatlich vielfach gespaltene Einheit aller Ionier oder Dorer bezeichnen. Bei Herodot findet sich der Hinweis auf das Griechentum, das durch Blut und Sprache eine Einheit bilde, gekennzeichnet durch die gemeinsame Verehrung der Götter, die gleichen Sitten und Bräuche. Demgegenüber war der populus Romanus, also das »römische Volk«, eine ganz politisch verstandene Einheit. Schon hier zeigt sich also der Doppelsinn des Begriffs.

»Es sind … in der Geschichte nachgewiesen die Grundzüge der Deutschen als eines Urvolks, und als eines solchen, das das Recht hat, sich das Volk schlechtweg, im Gegensatz mit anderen von ihm abgerissenen Stämmen zu nennen, wie denn auch das Wort Deutsch in seiner eigentlichen Wortbedeutung das soeben Gesagte bezeichnet.«

Johann Gottlieb Fichte

In der deutschen wie in den meisten anderen europäischen Sprachen diente das Wort »Volk« allerdings nicht nur der Bezeichnung ethnischer oder politischer Einheiten, es wurde auch bis ins 19. und teilweise bis ins 20. Jahrhundert verstanden als Bezeichnung für die »Menge«, für »arme liute«, was jeder Berufung auf das »Volk« einen »gefühlsdemokratischen« (Max Scheler) Zug verlieh und begreiflicherweise das Unbehagen einer aristokratischen oder monarchischen Obrigkeit wachrief und im deutschen Fall die Nähe von National- und Demokratiebewegung erklärt, die beide im Namen des Volkes auftraten.

Völker sind historische Größen, aber sie sind, wie Tilman Mayer feststellte, »… nicht vereinbart, beschlossen, kontra­hiert, gestiftet, gegründet, geschaffen, d.h. konventionell«. Das Volk ist nicht mehr Natur, aber auch nicht künstlich wie etwa der Staat künstlich ist. Es beruht oft auf »Abstammungs-«, in jedem Fall aber auf »Fortpflanzungsgemeinschaft«, und die »Ethnogenese« ist ein in vielen Fällen durchaus rekonstruierbarer Prozeß. So konnte mit Hilfe archäologischer Funde gezeigt werden, wie die Verschmelzung fränkischer und burgundischer Gruppen in Nordostfrankreich stattfand, nachdem beide Gruppen über einen relativ langen Zeitraum in einem gemeinsamen Staat nebeneinander lebten. Selbst in den mythischen Überlieferungen abstammungsstolzer Völker – etwa der Römer – ist die Erinnerung an die Heterogenität der Anfänge manchmal erhalten geblieben.

Die moderne Naturwissenschaft bietet ein breites Repertoire von Methoden, um »Ethnogenesen« zu rekonstruieren, ohne Stiftungsmythen – den »Ethnogonien« – blind zu vertrauen. Wie weit solche Konzepte führen, kann man etwa an dem Human Genome Diversity Project feststellen, das 1991 von Luigi Luca Cavalli-Sforza, einem renommierten Genetiker der Universität Stanford, begründet wurde und seitdem dessen Lebenswerk, die Rekonstruktion des menschlichen Stammbaums, zu vollenden sucht.

»Das nationale Pflichtgefühl zwingt uns zum Dienst: Dienst im Interesse des Volkes, mit dem Volk; trotz seiner, fallweise gegen es, wenn es nötig sein sollte.«

Oliveira Salazar

Damit sind ethnische Gruppen aber auch über Erbinformationen definiert und dem immer wieder unternommenen Versuch der Boden entzogen, das Vorhandensein ethnischer Identität zu leugnen. Möglicherweise könnte hier eingewendet werden, daß die präzise Abgrenzung einer Ethnie nur noch im Fall der »Völker ewiger Urzeit« (Kurt Breysig) möglich ist, aber Cavalli-Sforza hat im Rahmen seiner Forschungen auch darauf hingewiesen, daß moderne Nationen meßbare genetische Gemeinsamkeiten besitzen. Er bestätigt damit eine ältere These des deutschen Ethnologen Wilhelm E. Mühlmann, der zwar gegen die romantische Idee vom »Urvolk« auf den geschichtlichen Charakter der Völker bestand, deren kollektiven »Charakter« allerdings mit Hinweis auf ein im allgemeinen ethnisch homogenes »organisierendes Zentrum« erklärte, das fremde Bestandteile anzog, assimilierte und durch die Behauptung einer gemeinsamen Abstammung an sich band.

Literatur

  • Max Hildebert Boehm: Das eigenständige Volk [1932], zuletzt Darmstadt 1965;
  • Tilman Mayer: Prinzip Nation. Dimensionen der nationalen Frage am Beispiel Deutschlands [1986], zuletzt Opladen 1987;
  • Wilhelm E. Mühlmann: Entstehung und Wachstum des ethnographischen Horizontes, in: ders.: Rassen, Ethnien, Kulturen, Soziologische Texte, Bd 24, Neuwied und Berlin 1964, S. 15-74.