Psychologie der Weltanschauungen

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Psychologie der Weltanschauungen.
Karl Jaspers, Berlin: Springer 1919.
Karl Jaspers (1883–1969) um 1910

Nach dem Ersten Weltkrieg vollzog sich vor allem in Deutschland ein weltanschaulicher Umbruch, der das ganze bis dahin gültige Wertgefüge in Bewegung brachte, Jaspers spricht von der »Erschütterung der Überlieferung«. In dieser Situation veröffentlichte er die Psychologie der Weltanschauungen, die auf Vorlesungen der Kriegszeit zurückgeht. Jaspers, der damals in Heidelberg als Psychopathologe lehrte, legte damit sein erstes philosophisches Buch vor, das er selbst als »verstehende Psychologie« bezeichnete, die das »Verstehen« in den Mittelpunkt stellte und damit den Anspruch beispielsweise der Psychoanalyse, »Leben zu schaffen und zu leben«, zurückwies.

Für Jaspers ist die Subjekt-Objekt-Spaltung der Schlüssel zur Weltanschauung des Menschen. Dem Menschen (Subjekt) ist es nicht gegeben, seine Intention auf das Objekt zu erfüllen, es bleibt immer ein Spalt zwischen beiden. Ein mystisches Einssein mit den Dingen, wie man es für naturreligiöse Kulturen der Frühzeit annimmt, ist nicht möglich, womit gleichzeitig auch klar ist, daß für den Menschen kein paradiesischer Ur- bzw. Endzustand erreicht werden kann. Aus diesem Verhältnis resultieren die statischen Elemente der Weltanschauung: die Einstellungen (gegenständlich, selbstreflektierend, enthusiastisch), die fragen, wie wir uns zu den Dingen verhalten sollen; und die Weltbilder (sinnlich-räumlich, seelisch-kulturell, metaphysisch), die beschreiben, wie die Dinge beschaffen sind, auf die sich die Einstellungen beziehen

»Der lebendige Realist fühlt gegenüber dem irrealen Prinzipienmenschen und Fanatiker: die Dinge nicht klein schlagen, sondern gestalten! gegenüber dem chaotischen Realisten: Sinn, Richtung und Glauben haben! gegenüber dem formerstarrten, engen und absoluten Realisten: weit, frei, enthusiastisch zu sein, um einzuschmelzen, in Frage zu stellen, um wachsen und gestalten zu können.«

Aus diesen beiden Elementen formt der »lebendige Prozeß des Geistes« die strukturierten Weltanschauungen, die Jaspers als »Geistestypen« bezeichnet. Der Prozeß selbst vollzieht sich in den berühmten Grenzsituationen: Leiden, Kampf, Tod, Zufall, Schuld. Sie stellen den Menschen vor eine Situation, die nicht wandelbar ist und in der er sich ändern und entscheiden muß. Im Hintergrund der Grenzsituationen steht die antinomische Struktur des Daseins, die keine eindeutigen, ewiggültigen Antworten auf die Fragen des Lebens zuläßt. In den Grenzsituationen lösen sich erstarrte Haltungen auf, und es entscheidet sich neu, worin der Mensch seinen Halt findet, im »Gehäuse« oder im »Unendlichen«. Dazu muß der Mensch, so Jaspers, durch den Nihilismus als einer notwendigen Entwicklungsstufe hindurch und alles in Frage stellen. Wer dort nicht verweilt, als Sophist, Skeptiker oder »Nihilist der Tat« oder psychisch krank wird, kann wieder neue »Gehäuse« aufbauen (die ihm zwar Orientierung geben aber auch die Gefahr der Erstarrung enthalten) oder den »Halt im Unendlichen« finden. Mit diesem Paradoxon umschreibt Jaspers seinen eigentlichen Anspruch: Ein Geistestypus ist nie das Leben selbst, deshalb ist der unendliche Formungsprozeß, die Gratwanderung in den Grenzsituationen, die eigentliche Herausforderung.

Mit diesem Buch, das seinen Ruhm begründete und das sicher sein schönstes ist, grenzte sich Jaspers deutlich von der sogenannten Wertphilosophie ab, die der Meinung war, dem Menschen ein entsprechendes Wertgerüst vermitteln zu können, nach dem er sich dann nur noch zu richten braucht. Jaspers war dagegen der Auffassung, daß durch solche Wertlehren nur Verwirrung entsteht, weil neue Situationen eigene und neue Entscheidungen verlangen. Die Psychologie der Weltanschauungen gilt als erste Schrift der Existenzphilosophie, die später auch mit dem Namen Martin Heideggers verbunden wurde. Heidegger hat das Buch aufmerksam gelesen und eine kritische Rezension verfaßt, und auch Arnold Gehlen war in seinen Schriften der späten zwanziger Jahre von dem Buch beeinflußt.

Ausgabe

  • 6. Auflage, Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1971 (mit Register); auch als Taschenbuchausgabe, München: Piper 1994.

Literatur

  • Hans Saner (Hrsg.): Karl Jaspers in der Diskussion, München 1973.
Der Artikel wurde von Erik Lehnert verfaßt.