Psychologie der Massen

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Psychologie der Massen (frz. Psychologie des Fouls, Paris 1895).
Gustave Le Bon, Leipzig: Klinkhardt 1908.
Gustave Le Bon (1841–1931) um die Jahrhundertwende

Gustave Le Bon, Soziologe, Anthropologe, wissenschaftliche Forscher und Weltreisender, hat sich zu zahllosen Themen schriftlich geäußert, vom Tabakrauchen über die arabische Zivilisation und die Entstehung der Materie, über Krankheiten der Geschlechtsorgane, bis hin zur Pferdedressur und die Erziehungspsychologie. Sein mit Abstand berühmtestes Werk aber ist die in zweiundzwanzig Sprachen übersetzte Psychologie der Massen. (Der deutsche Titel ist insofern irreführend, als Le Bon foule (Menge) und masse (Masse) keineswegs als Synonyme verwendet.)

In diesem zentralen Text der Gesellschaftpsychologie, die sich fundamental von der Psychologie des Individuums unterscheidet, definiert Le Bon die Masse als spontanes Zusammentreten einer Gruppe von einzelnen im Bann einer starken Gefühlswallung, die sich infolge von etwas gemeinsam Erlebtem oder Gehörtem einstellt. Sie ist kollektiv geprägt von leidenschaftlicher Erregung: von Haß, Begeisterung oder Liebe.

»Aus der Barbarei von einem Wunschtraum zur Zivilisation geführt, dann, sobald dieser Traum seine Kraft eingebüßt hat, Niedergang und Tod – in diesem Kreislauf bewegt sich das Leben eines Volkes.«

Le Bon verfolgt zunächst einen »ganzheitlichen« Ansatz: Sein Grundgedanke ist, daß der Masse als Masse Merkmale zukommen, die sich in keinem ihrer individuellen Bestandteile wiederfinden lassen. In diesem Punkt folgt er einem der Begründer der Soziologie, Emile Durkheim (dessen Meinungen er ansonsten keineswegs uneingeschränkt teilt), der 1895 in seinen Regeln der soziologischen Methode schrieb: »Die Gesellschaft ist keine bloße Summe von Individuen, sondern das System, das durch ihre Vereinigung entsteht, stellt eine spezifische Realität dar, die ihre eigenen Merkmale aufweist.« Freilich radikalisiert Le Bon diese Beobachtung, indem er sie auf die Masse und eben nicht auf die Gesamtgesellschaft anwendet.

Er formuliert ein »psychologisches Gesetz der seelischen Einheit der Masse«, aus der eine neue menschliche Wirklichkeit entsteht, die »Seele der Massen«, die anderer Natur ist als die geistige Summe der einzelnen, aus denen sie sich zusammensetzt. Diese »Seele« homogenisiert die Masse und beseitigt gewissermaßen die Unterschiede zwischen ihren Mitgliedern. Als Teil einer Masse hat der einzelne an ihrer »Seele« teil und fällt auf eine primitive Stufe der Menschheit zurück, nämlich auf jene der elementaren Instinkte und Triebe. Zugleich verändert sich unter dem Einfluß der Masse die Persönlichkeit des einzelnen; er läßt sich von Gefühlen und Ideen bewegen, die nicht von Natur aus seine eigenen sind.

Le Bon mißt also der Beeinflußbarkeit durch gegenseitige Ansteckung innerhalb der Masse große Bedeutung zu. Er zeigt, daß sich die Bereitschaft einer Gruppe zur Unterwerfung gegenüber einem »Führer« unter bestimmten Umständen vervielfacht und die Züge einer Art der freiwilligen Versklavung annimmt. Das ist umso bedeutsamer, als Massen der Führerschaft geradezu zwangsläufig bedürfen, um sich strukturieren zu können und handlungsfähig zu werden. Der Ursprung dieses Bedürfnisses interessiert Le Bon weniger als die Rolle des Führers, die kollektive leidenschaftliche Energie der Masse in eine bestimmte Richtung zu lenken. Seine Aussagen dazu unterscheiden sich von dem, was Max Weber über den »charismatischen« Herrscher geschrieben hat (Le Bon spricht von prestige, »Nimbus«, statt von »Charisma«).

Le Bon bringt der Masse unverhohlene Verachtung entgegen: »Sie denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten.« Das Ich geht ganz im Über-Ich, der einzelne in der Gruppe auf, was ihn der Notwendigkeit eines differenzierten Denkens und Sprechens enthebt. Andererseits gehörte Le Bon zu den ersten, die nachwiesen, daß Massen auch als Motor politischer, kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen wirken können, die den Verlauf der Geschichte verändern und – in einem nicht nur schädlichen Sinn – zur »zivilisatorischen Erneuerung« beitragen. Sein Buch schließt mit der Feststellung, daß der Anbruch des »Zeitalters der Massen« mit der gesellschaftlichen Demokratisierung einhergehe.

Mussolini pries die Psychologie der Massen, zu deren Lesern Lenin, Stalin und Mao ebenso zählten wie Roosevelt, Churchill, Clemenceau und de Gaulle. Sigmund Freud sah in Le Bons Beobachtung, daß die Masse immer vom Unbewußten beherrscht wird, eine Illustration der »Veränderungen des Ichs inmitten einer erregten Gruppe«. Viele Kommentatoren lesen das Buch auch als hellseherische Analyse einer wesentlichen Voraussetzung der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, der Manipulierbarkeit der Massen durch Führerpersönlichkeiten. Darüber hinaus kündigt sich in Le Bons »Masse« schon die »Öffentlichkeit« an, mit der sich die heutige Mediensoziologie so intensiv beschäftigt.

Ausgabe

  • Mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart: Kröner 2008.

Literatur

  • Serge Moscovici: L’âge des foules, Paris 1981.
  • Catherine Rouvier: Les idées politiques de Gustave Le Bon, Paris 1986.
Der Artikel wurde von Alain de Benoist verfaßt.