Lechfeld

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Bayern, südlich von Augsburg

»Daß wir in dieser großen Bedrängnis tapferen Mut beweisen müssen, das seht ihr selbst, meine Mannen, die ihr den Feind nicht in der Ferne, sondern vor uns aufgestellt erblickt. Bis hierher habe ich mit euren rüstigen Armen und stets siegreichen Waffen rühmlich gekämpft und außerhalb meines Bodens und Reiches allenthalben gesiegt, und sollte nun in meinem eigenen Lande und Reiche den Rücken zeigen? An Menge, ich weiß es, übertreffen sie uns, aber nicht an Tapferkeit, nicht an Rüstung, denn es ist uns ja hinlänglich bekannt, daß sie zum größten Teil durchaus jeglicher Wehr entbehren und – was für uns der größte Trost ist – der Hilfe Gottes. Ihnen dient zum Schirm lediglich ihre Kühnheit, uns die Hoffnung auf göttlichen Schutz. Schimpflich wäre es für uns, die Herren fast ganz Europas, uns jetzt den Feinden zu unterwerfen. Lieber wollen wir im Kampf, wenn unser Ende bevorsteht, ruhmvoll sterben, meine Krieger, als den Feinden untertan in Knechtschaft leben oder gar wie böse Tiere durch den Strick endigen. Ich würde mehr sagen, meine Krieger, wenn ich wüßte, daß durch meine Worte die Tapferkeit oder Kühnheit in euren Gemütern erhöht würde. Jetzt laßt uns lieber mit den Schwertern als mit Worten die Verhandlung beginnen!«

Mit dieser Rede – folgt man dem Chronisten Widukind von Corvey – führte König Otto I. (➞ Aachen), später »der Große« genannt, am 10. August 955 auf dem Lechfeld sein Heer gegen die Ungarn in die Schlacht. Mit Baiern, Franken, Schwaben und Böhmen – Sachsen und Lothringer waren noch nicht eingetroffen – schlug der sächsische Herrscher die Ungarn so vernichtend, daß die jahrzehntelange »Ungarngefahr«, die schon seinem Vorgänger, Heinrich I. (➞ Quedlinburg) zu schaffen gemacht hatte, ein für allemal beendet war. Für Ottos politische Karriere, die er 962 mit seiner Krönung zum römischen Kaiser vollendete, war die Schlacht entscheidend. Er führte hier die traditionell verfeindeten deutschen Volksstämme zusammen, um gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen, und er tat dies im Namen der christlichen Religion, die Karl der Große erst 150 Jahre zuvor gewaltsam bei den Sachsen eingeführt hatte (➞ Enger). Otto zog mit der Heiligen Lanze (➞ Wien: Hofburg) ins Feld, dem ältesten Stück der späteren Reichsinsignien, von der man glaubte, daß in ihre Spitze ein Nagel vom Kreuz Christi eingelassen war. Zudem kämpfte Otto unter der Fahne des Erzengels Michael, des Anführers der himmlischen Heerscharen im apokalyptischen Endkampf, der der Offenbarung des Johannes zufolge den als Drachen vorgestellten Satan tötet. Der Sieg unter dieser Fahne trug mit dazu bei, daß Sankt Michael als Schutzpatron der Deutschen etabliert werden konnte.

Vor dem Hintergrund der gelungenen Abwehr der Ungarn durch ein gemeinsames Heer der deutschen Stämme leuchtet es unmittelbar ein, daß die Schlacht auf dem Lechfeld schon relativ früh als Geburtsstunde der deutschen Nation galt. Schließlich zeigte sich hier in geradezu klassischer Weise, daß nationale als politische Identität ganz wesentlich davon lebt, daß das »Wir« vom »Nicht-Wir« eindeutig geschieden wird und daß dies dann am besten funktioniert, wenn es einen gemeinsamen äußeren Feind gibt, der den Zusammenschluß notwendig macht. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, daß es unmittelbar nach 955 bereits eine deutsche Nation im heutigen Sinne des Wortes gegeben habe. Doch gerade im Falle der Deutschen, die erst gut 900 Jahre später einen Nationalstaat erhielten, ist es evident, wie wichtig die gemeinsame Geschichte ist, die die verschiedenen Volksstämme überhaupt erst dazu gebracht hat, sich als eine Nation zu begreifen. Die heutige vor allem in der Geschichtswissenschaft verbreitete Vorstellung, Nationen seien in toto »Erfindungen« des 19. Jahrhunderts, ist mindestens so unsinnig wie eine ältere Auffassung, die von der Existenz einer quasi naturwüchsigen deutschen Nation ausging. Dabei hat man bereits im Wilhelminischen Kaiserreich die Dinge sehr viel klarer gesehen. Friedrich Meinecke etwa sprach davon, daß es »Zeiten des mehr vegetativen und schlummernden Daseinsder Nationen« gebe, daß es aber auch solche Zeiten gebe, »wo sie das Auge aufschlugen«. Daß die Schlacht auf dem Lechfeld eine solche Zeit war, liegt auf der Hand.

Dabei ist die nationale Rezeption der Lechfeldschlacht im ganzen eher bescheiden gewesen. Das hängt zum einen damit zusammen, daß die geschichtspolitische Grundierung Deutschlands im 19. Jahrhundert zunehmend auf Preußen bezogen wurde. Zum anderen mag der lange verbreitete Vorwurf an die deutschen Könige und Kaiser von den Ottonen bis zu den Staufern eine Rolle gespielt haben, sie hätten für das Ziel einer universalen Herrschaft die Belange der deutschen Nation vernachlässigt. Die prominenteste Anknüpfung an 955 fand jedenfalls erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt, in dem nach dem Augsburger Bischof benannten »Ulrichsjahr« 1955. In der zentralen Festrede betonte Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (CDU) allerdings weniger die nationale Bedeutung der Schlacht, sondern zog eine Parallele von der Vernichtung der »heidnischen Nomadenscharen des Ostens« 955 zu den kommunistischen »Massen des Ostens«, die auch heute wieder an der Pforte zum christlichen Abendland stünden und die es erneut zurückzuschlagen gelte. Die Rede erregte einiges Aufsehen, vor allem gab es Kritik aus der Opposition und der linksliberalen Presse. Ihre Stoßrichtung aber war bald vergessen, als Parteitaktik und weltpolitische Entspannung das katholisch-konservative Element in den Unionsparteien immer weiter zurückdrängten.

Es gibt daher auch bis heute kein Lechfeldmuseum, das sich der Schlacht und ihrer Bedeutung widmet. Seit 2009 wird aber immerhin geplant, diesen Mißstand zu beseitigen. Vielleicht hat hier eine Rolle gespielt, daß die 2008 erstmals ausgestrahlte ZDF-Reihe »Die Deutschen« mit einer Folge über Otto den Großen gestartet ist, in der die nationale Bedeutung der Lechfeldschlacht besonders betont wird. Die Wirkung, die die eingestreuten Spielfilmszenen – darunter die Ansprache Ottos an seine Männer – auf Heranwachsende haben, zeigt immerhin, daß eine Anknüpfung prinzipiell möglich ist. Dazu bedürfte es lediglich eines Mindestmaßes an Mut zur eigenen Geschichte, insbesondere zu den großen Stunden der deutschen Nation.

Literatur

  • Charles R. Bowlus: Die Schlacht auf dem Lechfeld, Ostfildern 2012.
  • Crux Victorialis. Ein Erinnerungsbuch an die St.-Ulrichs-Festwoche und die Tage abendländischen Bekenntnisses vom 2. bis 11. Juli 1955 in Augsburg, Augsburg 1955.
  • Karlheinz Weißmann: Nation?, Schnellroda 2001.
  • Widukind von Corvey: Rex gestae Saxonicae. Lateinisch/deutsch, hrsg. von Ekkehard Rotter, Stuttgart 1992.
Der Artikel wurde von Martin Grundweg verfaßt.