Hans Freyer: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 21. Juli 2019, 10:41 Uhr

Hans Freyer um 1925
Freyer, Hans,
geb. 31. Juli 1887 Leipzig,
gest. 18. Januar 1969 Ebersteinburg.

Bis etwa 1970 noch war es gang und gäbe, daß man sich zur Kennzeichnung der Zeitlage auf Freyers zivilisationskritische Nachkriegsschriften berief. Heute eröffnet sein mehrtausendseitiges sozialphilosophisches Opus nur noch einem kleinen Leserkreis einen wortgewaltigen Zugang zur modernen Geschichte Deutschlands im europäischen Rahmen.

»Nur wenn sich aus dem Erbe der Geschichte Kräfte erschließen lassen, hart genug, um ihm gewachsen zu sein, gelöst genug, um sich ihm einzuflößen, wird sich das sekundäre System als ein Jahresring, durch den hindurch sie weiterwachsen wird, an die Geschichte der Menschheit anlegen.«

Freyer schloß sein philosophisches Studium in Leipzig 1911 mit der Promotion ab. Aus den Umbrüchen des Jahrhundertbeginns erwuchs ihm sein konstitutives historisches Grundproblem, das er in eine Denkfigur des deutschen Idealismus faßte: Subjektiver und objektiver Geist lassen sich mit der Heraufkunft der Industriegesellschaft, einer Zäsur von globaler Dimension, nicht mehr lebendig- schöpferisch vermitteln. Die intellektuelle Bewältigung ihrer gebrochenen Beziehung bildet die durchgehende Linie von Freyers Schaffen. Mit den Erfahrungen von Jugendbewegung und Weltkrieg unternahm er die ersten Klärungen in Kategorien der Lebens- und Existenzphilosophie. Ihrer erkannten Unzulänglichkeit folgten methodologische Überlegungen parallel zu seiner akademischen Karriere (1921 habilitiert, 1922 Professor der Philosophie in Kiel, 1925 Inhaber des ersten ausschließlich der Soziologie gewidmeten Lehrstuhls in Deutschland an der Universität Leipzig): Freyer wollte nunmehr der neuartigen sozialgeschichtlichen Realität gerechter werden mit seiner Forderung nach »historisch gesättigten« Begriffen und nach »Ethoswissenschaft«, das heißt, Sozialwissenschaft sollte selbst ein integraler Bestandteil der historischen Bewegung sein, deren Willensrichtung zugleich erhellend und aktivierend, mit anderen Worten, politisch. Er löste dies Versprechen ein in einer Reihe kleinerer, aber publizitätswirksamer Arbeiten zwischen 1925 und 1935, heute meist retrospektiv fehlgedeutet. Für Freyer stellte sich die Aufgabe seinerzeit so dar: Wie ist es möglich, die lebensfeindliche, eigendynamische Macht der technischen und wirtschaftlichen Superstrukturen zurückzuverwandeln in Mittel authentischer Lebensführung, ohne in die gescheiterten Modelle des 19. Jahrhunderts zu verfallen? Hier bringt Freyer das »Volk« als neues revolutionäres Subjekt ins Spiel. Es unterstellt sich – in seiner Vision, muß man wohl sagen – die neuen titanischen Seinsmächte, indem es sie als Ausdruck der eigenen geschichtlichen Existenz wie eine ethische Verpflichtung entschlossen bejaht, ergreift und zur »Rüstung einer neuen Menschlichkeit« umbaut. Das Volk ist hier kein biologischer oder kultureller Terminus, »Volk« bezeichnet eine Schicksals- und Willensgemeinschaft, deren Energie sich zwar aus ihrer Vergangenheit speist, deren zukünftige Gestalt dagegen erst im heroischen Ringen mit dem kairos des geschichtlichen Augenblicks zutage tritt. Maßgeblicher Faktor der Formgebung ist das politische Führungspersonal, das aus dem Volk hervorgeht und im Einklang mit ihm bleibt, die historisch notwendigen Planungsschritte vollzieht und so »das Reich« verwirklicht. Damit wären die modernen gesellschaftlichen Defekte und Defizite in gemeinschaftliche Sinngebung überführt und, ohne sie als solche zu leugnen oder zu beseitigen, ihre sozial zerreißenden Qualitäten aufgehoben.

zerreißenden Qualitäten aufgehoben. Unter dem Eindruck der Entwicklungen nach 1933 blieb diese Prophetie »von rechts« nicht unkorrigiert. Wir sehen, wie Freyer – der anfänglich durchaus Sympathien für die nationalsozialistische Machtergreifung hegte, ohne je Parteimitglied gewesen zu sein – in der Folge auf vorsichtige Distanz ging, zum Konzept wie zum politischen System. Als Professor für Politische Wissenschaft, der er seit 1933 in Leipzig war, wirkte er von 1938 bis 1944 überwiegend in Budapest als Direktor des Deutschen Instituts.

Während der Weltkriegsjahre schrieb er seine umfangreiche Weltgeschichte Europas, deren Gang er von Momenten »verbindlicher Entscheidung« her gliedert. Ihre Einheit vollende sich durch die universale Industrialisierung. Im Erscheinungsjahr 1948 siedelte er nach Wiesbaden über, als sich seine Position in Leipzig nicht mehr halten ließ. Bis 1952 redigierte er die ersten Bände der großen Brockhaus-Enzyklopädie, und nach zwischenzeitlichen Gastprofessuren wurde er, obwohl schon emeritiert, 1955 zum Ordinarius für Philosophie an der Universität Münster berufen. 1963 beendete er seine akademische Laufbahn.

Sein Alterswerk klingt wie ein melancholischer Abgesang auf alle vordem erhofften und erdachten politischen Heilmittel der mit den Umwälzungen des 19. Jahrhunderts entstandenen Risse. Die mit der Modernisierung einhergehenden Sinnverluste und Entfremdungen sind nicht mehr innerhalb der »sekundären Systeme« von Technik und Wirtschaft abzugleichen. Ihre Autonomie ist abzulesen in zunehmender Rationalisierung und Ökonomisierung, der Verfügbarkeit von Mensch und Natur, im allverbreiteten Glauben an die Machbarkeit der Sachen. Die Entscheidungs- und Freiheitsräume reduziert Freyer jetzt auf die »Bewahrung des historischen Erbes« in überschaubaren interaktiven Zusammenhängen, in dem allein Identitätsfindung noch möglich sei. Die Substanz, die dem einzelnen daraus zuwachse bzw. die er damit reproduziere, wäre faktisch sogar eine »haltende Macht« des technologisch-industriellen Gefüges.

Schriften

  • Antäus. Grundlegung einer Ethik des bewußten Lebens, Jena 1922.
  • Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Leipzig 1923.
  • Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig 1930.
  • Revolution von rechts, Jena 1931.
  • Machiavelli, Leipzig 1938.
  • Weltgeschichte Europas, Wiesbaden 1948.
  • Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955.
  • Preußentum und Aufklärung. Und andere Studien zu Ethik und Politik, neu hrsg. v. E. Üner, Weinheim 1986.
  • Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, hrsg. v. E. Üner, Weinheim 1987 (darin auch Schriftenverzeichnis).

Literatur

  • Jerry Z. Muller: The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservativism, Princeton 1987.
  • Rolf Peter Sieferle: Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a. M. 1995.
  • Elfriede Üner: Soziologie als »geistige Bewegung«. Hans Freyers System der Soziologie und die »Leipziger Schule«, Weinheim 1992.
Der Artikel wurde von Rainer Waßner verfaßt.