Erkenntnis und Illusion

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Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung,
Ernst Topitsch, Hamburg: Hoffmann und Campe 1979.

Der Grazer Philosoph Ernst Topitsch ist einer der exponiertesten Vertreter des philosophischen Positivismus und kritischen Rationalismus, der auf dieser Grundlage seit den frühen sechziger Jahren eine eigenständige Ideologiekritik entwickelte. Sie richtete sich zunächst gegen klerikale Tendenzen, existentialistische Unschärfe und die Kritik an Modernitätsrückständen in Österreich, aber auch in der Bundesrepublik, wo Topitsch zwischen 1962 und 1968 einen Lehrstuhl für Soziologie bekleidete. Später richtete sich seine Kritik vor allem gegen die Hegelsche Dialektik, gegen Marx und den Marxismus als Wurzel des Unglücks des 20. Jahrhunderts. Topitsch zielte darauf, die Inkommensurabilität modernen wissenschaftlichen Denkens mit aller »Metaphysik«, Weltanschauung oder Ideologie aufzuweisen. Die Scheinprobleme von Metaphysik und Religion würden unter der wissenschaftlichen Ideologiekritik wie von selbst verschwinden, so Topitschs These. Neben Feuerbach sind Popper, Kelsen und Freud seine Gewährsleute. Topitsch wurde seit Mitte der siebziger Jahre zu den Exponenten konservativer Intelligenz gerechnet. Dies ist nur insofern zutreffend, als Topitsch auf den Zusammenhang von wert- und konfliktfreier Industriegesellschaft und illusionslos wertfreier Wissenschaft zielt.

Das mythische und historische Material, an dem Topitsch seine Grundthese nachweist, ist ungewöhnlich reich. Erkenntnis und Illusion kann dabei, auch im Sinne des Autors, als systematische Summe ausgreifender Studien verstanden werden. Topitsch geht von der These aus, daß Mythos und metaphysische Philosophie die Tendenz zu ekstatisch-kathartischen Erlösungsvorstellungen und einer Teleologisierung der Empirie gemeinsam hätten. Jene alte Denkvorstellung habe eine große Anpassungsfähigkeit erwiesen und sich erhalten, obgleich sie mit Logik und Erfahrung nicht übereinstimmt. Topitsch rekonstruiert dann zunächst phylogenetische Voraussetzungen der Weltauffassung: die Bedingungen, die durch Selektion und Druck von der Außenwelt menschlicher Lebensdeutung gesetzt werden. Soziale und motorisch taktile Erlebnisse stehen dabei im Vordergrund. In Orientierung an Cassirer wird dann die Weltdeutung früher Kulturen als Aufbau von Gruppennormen und Druckverminderung durch die Verklärung dieser Normen dekonstruiert. Totenkult und die Schaffung religiöser Ekstatik werden analysiert, um kulturvergleichend den Führungssystemen der Hochkulturen nachzugehen. Aufstieg in den Himmel und Abstieg zur Hölle fungieren als Formen verordneter Katharsis. Die frühen Hochkulturen bilden, wie Topitsch zeigt, bereits Fragestellungen heraus, die dann auf dem Weg vom Mythos zur Philosophie weitergeführt werden: insbesondere die Frage nach der Willensfreiheit und das Theodizeeproblem. Topitsch ist der Auffassung, daß es zwischen der antiken philosophischen Tradition, vor allem Platons und des Neuplatonismus, und dem Mythos keinen essentiellen Unterschied gibt. Die technomorphe Vorstellung eines Hervorgebrachtseins der äußeren Welt durch planendes demiurgisches Handeln und die Verknüpfung des »Wahren Ich« mit der Hervorbringung der wahren Vernunft werden auf ihre Verbindung mit dem Einen der Upanischaden und Veden untersucht und als ideologische Konstrukte begriffen. Es ist klar, daß Topitsch von hier her gnostische und Erlösungsmotive des Marxismus in derselben unheiligen Genealogie sehen kann. Marx ist der »Messias aus Trier«, der die Ideologie des Heilsherrschertums verkörpert, sich dabei aber der gänzlich irrationalen Magie der Dialektik bedient. Jede Teleologie und damit auch das Naturrecht sind nach Topitsch grundlos. Sie bleiben aber für moralisch-politische Handlungsanweisungen maßgebend. In einer plurifunktionalen Welt treten allerdings auch die Spannungen zwischen den Modellvorstellungen und Weltanschauungen deutlicher hervor. Biomorphe, soziomorphe, technomorphe sowie ekstatisch-kathartische Wert- und Normenbegründungen sind nach Topitschs Auffassung schlechterdings undurchführbar. Sie bezeichneten Grundformen menschlichen Denkens, die Topitsch in verschiedenen Kulturkreisen und Geistesepochen nachweist. Ein wesentliches Instrument ist die Leerformel, die in politischen Ideologien, spekulativen Philosophien und Heilslehren Aussagen als inhaltsleer aufweist, die mit Begründungsanspruch auftreten. In Übereinstimmung mit Hans Kelsen folgert er sogar, daß der kategorische Imperativ oder die goldene Regel zur Begründung jeder Gesellschaftsordnung, auch der Tyrannei, herangezogen werden könnten.

Wissenschaftliche Welterklärung muß daher an die Stelle der philosophisch-mythischen treten; im praktischen Feld ist hingegen der harten Realität ohne die Verklärungen der Transzendenzsysteme ins Auge zu sehen. Topitsch bestreitet allerdings nicht, daß die symbolischen Orientierungssysteme eine Bedeutung behalten. Diese wird aber lediglich lebensweltlich und Teil eines Gruppenzusammenhangs sein. Die befreiende Wirkung seiner Ideologiekritik sieht Topitsch darin, daß es in der offenen Gesellschaft keine Möglichkeit von Herrschaftslegitimierung im Namen absoluter Wahrheit gibt.

»… die Differenzierung von Erkenntnis und werthaft-normativer Deutung der Wirklichkeit hat auch die Autonomie der wissenschaftlichen Wahrheit gegenüber der politischen Macht klar hervortreten lassen. Herrschaft kann sich nun nicht mehr durch Berufung auf die Wahrheit (oder auf »ewige Wahrheiten«) legitimieren, noch kann sie über Wahr oder Falsch entscheiden. So ist das Prinzip objektiver Erkenntnis allen verhaßt, welche totale Macht besitzen oder anstreben, und es ist ein Rückhalt für alle, die sich einer solchen Macht widersetzen.«

Im einzelnen sind Topitschs Einwände gegen Denkformen von hoher traditioneller Dignität scharfsinnig und nicht selten erhellend. Seine Abarbeitung an der Tradition ist also im Detail inspirierend, das Ergebnis im ganzen steht aber von vornherein fest. Topitsch folgt, so eindrucksvoll er eine nüchterne, von Logik und Erfahrung geleitete Forschung einfordert, doch selbst einem positivistischen Dogma und einem linearen Begriff der Aufklärung, der kaum über die Projektionstheorien des 19. Jahrhunderts hinausgelangt ist. Er holt seine eigenen Voraussetzungen selbst nicht kritisch ein. Von marxistischer Seite (J. Kahl) ist der Positivismus als Konservatismus kritisiert worden. Es muß aber auch umgekehrt gefragt werden, ob für einen modernen Konservatismus der ungebrochene, letztlich geschichtsblinde Positivismus und Technokratismus eine überzeugende Lösung sein kann.

Ausgabe

  • 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen: Mohr 1988.

Literatur

  • Joachim Kahl: Positivismus als Konservatismus. Eine philosophische Studie zu Struktur und Funktion der positivistischen Denkweise am Beispiel Ernst Topitsch, Köln 1976.
  • Kurt Salamun (Hrsg.): Sozialphilosophie als Aufklärung. Festschrift für Ernst Topitsch, Tübingen 1979.
Der Artikel wurde von Harald Seubert verfaßt.