Dorische Welt

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Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht,
Gottfried Benn, in: ders.: Kunst und Macht, Stuttgart/Berlin: DVA 1934, S. 11–55.

ger das dumpfe Gefühl, auf Abbruch zu leben. Der intellektuelle Seismograph jedoch beläßt es nicht dabei, sucht nach dem treffenden Wort für das Leben in politischen »Erdbebenlandschaften« (Ernst Jünger) und fahndet nach der Gestalt, die aus dem Zusammenbruch als Träger der neuen Ordnung hervorgehen soll. In Gottfried Benns Worten klingt das so: »Die Geschichte verfährt nicht demokratisch, sondern elementar, an ihren Wendepunkten immer elementar. Sie läßt nicht abstimmen, sondern sie schickt den neuen biologischen Typ vor, sie hat keine andere Methode, hier ist er, nun handele und leide, baue die Idee deiner Generation und deiner Art in den Stoff der Zeit, weiche nicht, handele und leide, wie das Gesetz des Lebens es befiehlt. Und dann handelt dieser neue biologische Typ …«

Das Zitat stammt aus Benns Vortrag »Der neue Staat und die Intellektuellen«, erschienen in der Berliner Börsenzeitung vom 25. April 1933. Wenn dieser Text die anthropologischen und historischen Konstanten präsentiert, die Benn für wirkmächtig hielt, so ist der ein Jahr später in der Europäischen Revue als Teilabdruck erschienene Essay Dorische Welt die Skizze des »neuen biologischen Typs«, den Benn antreten zu sehen sich wünschte: ein Loblied auf die schöpferische Gewalt, auf »das Männerlager am rechten Ufer des Eurotas «, auf Sparta, das in Benns Ausdeutung gleichermaßen hochgezüchteter Kriegerstaat wie präfaschistischer Kunst-Ort ist.

Benns Essay ist in fünf Teile gegliedert. Zunächst wird als Gegenbild das ebenso lichtdurchflutete wie demokratisch und feminin angekränkelte Athen gezeichnet, eine »physiologische Welt«, in der das menschliche Maß herrschte und die daraus konsequent den Gedanken der Humanität ableitete (Teil I). Daß diese Welt gleichzeitig voller Tücke und Eitelkeit gewesen sei und vor allem »auf den Knochen der Sklaven « ruhte, wird von Benn schlicht konstatiert und geradezu bürokratisch eingeordnet (Teil II): »Durch diese Arbeitsteilung entstand der Raum für Waffengänge und Spiele, für die Schlachten und die Statuen, der griechische Raum.«

Diese aufkommende Feier des schönen Individuums hatte (nach Benn) einen überindividuellen Hintergrund: die dorische Welt Spartas. Der Zielpunkt des Essays wird bereits im III. Teil klar, Benn beginnt den »neuen biologischen Typ« zu modellieren, den neben »großem Willen« und »stärkstem aristokratischem Rassenglauben« vor allem die »Sorge über sich hinaus für das ganze Geschlecht« kennzeichne. Bei Ernst Jünger, der etwas früher als Benn seinen eigenen neuen Menschen, den Arbeiter, konzipierte, ist derselbe Gedanke ausgedrückt: »Der Verzicht auf Individualität stellt sich als ein Vorgang der Verarmung nur dem Individuum dar, das in ihm den Tod erkennt. Für den Typus bedeutet es den Schlüssel zu einer anderen Welt.« Benns Essay fordert geradezu den Verzicht auf die ab- und damit ausweichende Individualität, wünscht sich den »unterkomplexen Menschen« (Helmut Lethen), eine Reduzierung und Konzentration auf eine immer »zufallslosere Fügung« hin, eine Einordnung in das oben zitierte elementare Gesetz der Geschichte. Teil IV ist in diesem Sinne eine Neufassung von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872): Auch bei Benn ist der Rausch (das Dionysische) ein Baustein der Kunst, aber »zwischen Rausch und Kunst muß Sparta treten, Apollo, die große züchtende Kraft«.

»Dorisch ist der hellenische Schicksalsbegriff: das Leben ist tragisch und doch durch Maße gestillt.«

Benn sieht (Teil V) darin die Geburtsstunde einer Haltung, eines Ausdrucks – »das Ganze ist ein Stil«, ist gegennatürlich, »Vereinsamung der Form als Aufstufung und Erhöhung der Erde«, oder mit dem vielzitierten Wort zusammengefaßt: »Der Staat macht das Individuum kunstfähig. « Der Mensch sei die Rasse mit Stil, der Stil sei der Wahrheit überlegen, weil er in sich den Beweis der Existenz trage und sich nicht rechtfertigen müsse. In der Form ist Dauer, »Kunst ist die Arterhaltung eines Volkes, seine definitive Vererbbarkeit«, schreibt Benn im Juni 1933 mit Blick auf die neuen Machtverhältnisse und gipfelt, Novalis zitierend: »Kunst als die progressive Anthropologie.«

Dorische Welt ist ohne Frage ein schwieriges, befremdendes Werk. Verblüffend ist, daß es zu drei Vierteln aus Exzerpten bestehen dürfte, vor allem Hippolyth Taine (Philosophie der Kunst, 1865/1902) und Jacob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte, 1898) sind ausgeschlachtet, selektiv in Benns Sinne: Er wollte ja etwas mit diesem Text, in dieser nicht nur von ihm als gewaltig empfundenen Phase des totalen politischen Umbruchs, er wollte die Kunst und mit ihr den Künstler in Position bringen (und hatte dabei die Stellung des Futuristen Marinetti im faschistischen Italien vor Augen). Dorische Welt muß jedoch nicht im Kontext seiner Entstehung und Veröffentlichung wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers gelesen, sondern kann autonom als eine nicht historisch gebundene Grundlegung des »faschistischen Stils« verstanden werden, den Armin Mohler nicht ohne Grund auch am Beispiel Gottfried Benns skizzierte. Auch Fritz J. Raddatz nennt Benn in seiner Biographie einen Faschisten und trennt dies – wie Mohler – scharf von der nationalsozialistischen Gemütslage, die vor einem Essay wie Dorische Welt gewiß voller Unverständnis hat stehen müssen. Die fraglose Form könnte das sein, was bleibt, nach dem »Auslöschen aller ideologischen Spannungen«, wie Benn es in Teil V noch einmal zusammenfassend schreibt. Diese Einordnung soll jedoch dem Text nichts von seinem Charakter einer »totalen Mobilmachung« nehmen, als der er gedacht war und als der er auch heute (wiederum in »Erdbebenlandschaften«) gelesen werden kann.

AUsgabe

  • Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. IV (Prosa 2), Stuttgart: Klett-Cotta 1989, S. 124–153.

Literatur

  • Götz Kubitschek: Gottfried Benn. Versuch über einen Faschisten, in: Sezession (2006), Heft 14.
  • Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006.
  • Dieter Wellershoff: Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde, Köln/Berlin 1958.
Der Artikel wurde von Götz Kubitschek verfaßt.