Der Staat

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Der Staat (griech. Politeia).
Platon von Athen, 4. Jh. v. Chr.

Als Sohn einer vornehmen und reichen Familie schloß sich Platon mit 20 Jahren dem Philosophen Sokrates an. In seinen jüngeren Jahren erlebte er den Peloponnesischen Krieg und die Instabilität des Bürgerstaates in seiner Heimatstadt Athen. Als katastrophale Zäsur empfand er schließlich 399 v. Chr. das Todesurteil gegen seinen Lehrer Sokrates. Von diesem Zeitpunkt an fühlte er sich berufen, aus der Lehre und dem Schicksal von Sokrates die denkerischen Konsequenzen zu ziehen.

Platons Hauptwerk mit dem griechischen Titel Politeia ist vermutlich in den Jahren nach der Gründung seiner Akademie (388/7 v. Chr.) entstanden und nicht vor 375 v. Chr. vollendet worden. Gegenstand dieser Schrift ist der Entwurf einer idealen Polisordnung, und deren Kern ist die Erziehung (paideia). Platon hat damit das alte Problem, das die Entwicklungsgeschichte der Polis von Beginn an begleitete, die Ausbildung einer politischen Tugend (politike arete) der Bürger, auf eine neue Weise beantwortet. Er fand sie in Sokrates’ Lehre, daß ein guter Bürger nur werden könne, wer sich mit seiner ganzen Persönlichkeit an der unteilbaren Idee des Guten orientiere, indem er die einzig maßgebliche Instanz, seine Seele, bilde. Die Revolution der Werte, die einzig zu einer stabileren politischen Ordnung führen könne, muß sich also als Umkehr im Innersten des einzelnen Menschen vollziehen.

einzelnen Menschen vollziehen. Während Sokrates dies jedoch allen Bürgern seiner Polis nahezubringen versuchte, legte Platon in Reaktion auf das in seinen Augen offensichtliche Scheitern des demokratischen Bürgerstaates seinem Staat ein radikal anderes Konzept zugrunde. Es geht von einem Generalangriff auf die traditionelle Vorstellung von Tugend (areté) aus, deren bisher höchster Wert, die Erlangung äußeren Ruhms, und deren wichtigste Handlungsmaximen, Freundschaft und Rache, durch das am Gemeinwohl orientierte Gebot der Gerechtigkeit abgelöst werden mußten. Um dies zu erreichen, bedarf es aber, so Platon, einer konsequenten Entpolitisierung der Polis, d. h. der Abschaffung des Bürgers. Vielmehr gehört der einzelne, seiner jeweiligen Begabung entsprechend, einem der Stände an, die nach Platon ein funktionsfähiges Gemeinwesen benötigt: Die Masse seiner Mitglieder befindet sich im Stand der idiotes, deren Leben der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reproduktion gewidmet ist. Darüber erhebt sich der Stand der Wächter, die für die Stabilität des Gemeinwesens entscheidend sind. Es kommt also alles darauf an, die für diese Elite geeigneten Menschen durch die entsprechende Erziehung und Bildung heranzuziehen. Diese bezieht sich auf die drei Teile der Seele und umfaßt daher im Hinblick auf den appetitiven Seelenteil Gymnastik und Diätetik mit dem Ziel einer asketischen Zucht zu Selbstbeherrschung und Mäßigung. Mit einer kontrollierten musischen Bildung soll der muthafte Seelenteil kultiviert werden, und schließlich geht es bei der philosophischen Bildung um reine Erkenntnis und Wissen.

»Wenn nicht … entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt sogenannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, … eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten …«

Berühmt und berüchtigt sind die Überwachung und Zensur aller kultureller Betätigungen um ihrer Tugenddienlichkeit willen. Der Platon daraus gemachte Vorwurf eines repressiven Totalitarismus resultiert freilich aus einem modernen Anachronismus. Platon übernimmt mit dieser Maßgabe nämlich die Rolle, die die Kultur auch im Bürgerstaat gespielt hat, in dem sie immer durch und durch politisch und öffentlich gewesen ist und nie im individuellen Belieben stand. Daher bilden vor allem Dichtung und Musik auch bei Platon den Mittelpunkt einer politischen Ethik, freilich nicht mehr der Implementierung, sondern nunmehr ganz der Erkenntnis der Gerechtigkeit und des Guten gewidmeten Erziehung.

Wer dieses Ziel vollkommen erreicht hat, hebt sich schließlich aus dem Wächterstand durch eine besondere Qualifikation heraus und ist als Philosoph zum Regenten bestimmt. Deren Regierung besteht jedoch – auch dies ein liberalistisches Mißverständnis – nicht in einem herrscherlichen Entscheidungshandeln aus Machtvollkommenheit. Sie sind vielmehr die Garanten der von ihnen erkannten, einzig möglichen Ordnung, die unter der Herrschaft der Idee des Guten, Wahren und Schönen steht. Im Höhlengleichnis schildert Platon den mühsamen Weg zu dieser unverfügbaren Wirklichkeit des vollkommenen Seienden. Der in die Höhle des realen Wirklichen zurückkehrende Philosophenkönig verändert den Charakter von Herrschaft fundamental: Ohne jedes persönliche Interesse wacht der Philosoph lediglich über den unbedingten Vollzug objektiver Normen.

Platons Staat formuliert eine radikale Alternative zu Bürgerstaat und Politik, indem sie deren Kern, den eigenständigen Raum des Politischen, negiert und damit die gesamte historische Entwicklung seit Homer ins Unrecht setzt. Sie ersetzt das mehr oder minder gelingende politische Handeln (praxis) durch das Stabilitätsversprechen einer metaphysisch verankerten und allein durch eine konsequente (Selbst-)Erziehung zu erkennenden und zu gewährleistenden Ordnung des Guten. Es ist in dieser Gegenüberstellung leicht, Platons Konzept, von einem »realistischen« Standpunkt aus betrachtet, als schwärmerische idealistische Blindheit zu belächeln und abzutun oder in ihm die gefährliche Handlungsanleitung einer radikalen Utopie zu geißeln – und beides ist in der Neuzeit von Hobbes bis Popper immer wieder geschehen. Dennoch hat die platonische Idee bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt – zu Recht: Platon hat die »offene Flanke« (Joachim Fest) jeder freiheitlichen Politik schonungslos aufgedeckt. Ohne die Erziehung zu einer auf das allgemeine Wohl ausgerichteten Moral wird jeder freiheitliche Staat unter der Hand zur Beute individuellen Machthungers und teressen. Und eine solche Erziehung – auch das haben wir Platons tiefschürfenden Analysen zu verdanken – darf nicht Kenntnisvermittlung im Rahmen einer »Staatsbürgerkunde « sein, sondern ganzheitliche Menschen- und Seelenbildung. Wer sich einer solchen Bildungsanstrengung verweigert oder sich ihr nicht gewachsen zeigt, wird seine Aufgabe in einem politischen Raum von Freiheit und Verantwortung nicht erfüllen können.

Ausgabe

  • Griechisch u. deutsch bearb. v. Dietrich Kurz, hrsg. v. Günther Eigler, übers. v. Friedrich Schleiermacher, in: Platon: Werke, Bd. 4, Darmstadt: WBG 1970.

Literatur

  • Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde., Berlin 1936–1947 (ND 1989).
  • Wolfgang Kersting: Platons »Staat«, Darmstadt 1999.
  • Michael Stahl: Sokrates, in: Kai Brodersen (Hrsg.): Große Gestalten der griechischen Geschichte, München 1999.
  • Kai Trampedach: Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994.
Der Artikel wurde von Michael Stahl verfaßt.