Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform

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Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne,
Panajotis Kondylis, Weinheim: VCH 1991.

Eine »Erfassung der Lage unter den Bedingungen der Massendemokratie« der Gegenwart will Panajotis Kondylis in seinem Versuch einer Epochendiagnose leisten, die er unter das Signum eines »Niedergangs der bürgerlichen Denk- und Lebensform« stellt und in eben jener »Massendemokratie« resultieren läßt. Ein solches Unternehmen sei mit ähnlichem Anspruch »seit Hans Freyer und Arnold Gehlen« nicht mehr gewagt worden, bemerkte der Rezensent Gustav Seibt 1991 anläßlich der ingesamt gut aufgenommenen Erstveröffentlichung.

Kondylis’ Ausgangspunkt ist die in den späten achtziger Jahren grassierende Rede von einer »die Moderne« ablösenden »Postmoderne«: Jean-François Lyotard etwa hatte vom »Ende der großen Erzählungen« gesprochen, Francis Fukuyama verkündete gar ein »Ende der Geschichte«, während andere um 1989 mit der Postmoderne nur ein »Ende der Ideologien« erwarteten.

Kondylis’ ohne Fußnoten und namentliche Referenz auskommende Studie will solche »Parolen über Moderne und Postmoderne nicht bei ihrem Nominalwert« nehmen, sondern sie vielmehr in ihrer Struktur analysieren, damit ihren eigenen »ideologischen Charakter« aufzeigen und sie auf ihre polemische Funktion in der Entwicklung der gegenwärtigen Massendemokratie hin befragen. In der Fülle der Erscheinungen sucht er zu diesem Zweck nach zentralen »Denkfiguren«, die der ganzen Bandbreite symbolischer Formen einer Kultur zugrunde liegen. Die jeweils dominierenden Denkfiguren bilden Kondylis zufolge epochale Grundstrukturen aus, wobei sich allerdings die gängigen Periodisierungsversuche überlappen: Die »Postmoderne im epochalen Sinne« setzte ihm zufolge nämlich »zeitlich parallel mit der literarisch-künstlerischen Moderne an und nicht erst mit der literarisch-künstlerischen Postmoderne, wie es heute des öfteren angenommen wird«. Diese »terminologische Paradoxie« muß in Kauf genommen werden, »denn es gilt, durch den drastischen Begriff der Postmoderne die entscheidende Wendung vom Liberalismus – als Politik und Weltanschauung der bürgerlichen Moderne – zur Massengesellschaft und -demokratie herauszuheben«.

»Die künftige soziale und geschichtliche Entwicklung muß sich also keineswegs nach den heute vorherrschenden Begriffen und Werten richten. Begriffe und Werte sind nicht Richtlinien, die dem Geschehen den Weg weisen, sondern Funktionen dieses Geschehens in all seinen Peripetien und Schwankungen.«

Hinter der terminologischen Frage verbirgt sich damit jene fundamentale Transformation der europäischen Kultur, die von Zivilisationskritikern seit dem späten 19. Jahrhundert gern als »Vermassung« oder »Atomisierung« einer vormals sinnhaft geordneten Welt beschrieben wurde. Kondylis bemüht dagegen ein Pathos der Distanz, wobei doch seine Sympathie für die ältere bürgerliche Epoche unverkennbar ist. In dieser bürgerlichen Moderne, die im 19. Jahrhundert kulminierte, sieht Kondylis auch den Liberalismus als dominante Ideologie von einer »synthetisch-harmonisierenden« Denkfigur geprägt: Bürgerliches Handeln zielte – idealtypisch gesehen – stets darauf, eine vernünftige Synthese verschiedener Faktoren zustande zu bringen. Eine wesentliche Instanz der Vermittlung bildete der Staat: Dieser nahm bei der Herausbildung der bürgerlichen Denk-und Lebensform allmählich die Rolle des deistischen bzw. aufgeklärten Gottes ein. Die angebliche »Staatsfeindlichkeit des Bürgertums« erweist sich für Kondylis als Legende.

Das Eigentümliche der heutigen massendemokratischen Postmoderne erkennt Kondylis in der Vorherrschaft einer »analytisch-kombinatorischen« Denkfigur, die keine Substanzen kennt, sondern Funktionen, die beliebig kombiniert werden können. Ihre Wirksamkeit gewinnt diese Denkfigur in der grundsätzlichen Beseitigung der Güterknappheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im »Westen«, was »für die Gestaltung des sozialen Lebens und nicht zuletzt der ethischen Vorstellungen« einem tiefen »Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit« gleichkommt.

Massenproduktion und Massenkonsum bedingten einander, womit sich die Massengesellschaft in eine Massendemokratie wandelte – diese löst überkommene Bindungen sozialer und ethischer Art ab durch eine Fixierung auf das ungebundene Individuum, dem soziale und lokale Mobilität ebenso eignen wie ein ethisch indifferenter »Pluralismus« mit den »Menschenrechten« als letztem Fluchtpunkt. Der so als Individuum freigesetzte Einzelmensch scheint damit optimiert für seine doppelte Rolle als Produzent und Konsument, als Vermarkter seiner selbst. Freilich beharrt Kondylis am Ende einerseits gegen kulturkritische Bewertungen dieser Diagnose darauf, es sei nicht zu belegen, daß die Menschen in traditionalistischen Gesellschaften »mehr Originalität und Initiative als die heutigen« entwickelt hätten. Andererseits aber hält er dem postmodernistisch-massendemokratischen Glücksversprechen entgegen, mit abrupten Lageveränderungen, etwa durch erneuten Gütermangel, müsse realistischerweise stets gerechnet werden.

Ausgabe

  • 3. Auflage, Berlin: Akademie 2010.

Literatur

  • Peter Furth: Über Massendemokratie. Ihre Lage bei Panajotis Kondylis, in: Merkur (2009), Heft 717.
  • Falk Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission, Berlin 2007.
  • Adolph Przybyszewski: Autorenportrait Panajotis Kondylis, in: Sezession (2006), Heft 6.
Der Artikel wurde von Adolph Przybyszewski verfaßt.