Der Mythos vom Zivilisationsprozeß

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Der Mythos vom Zivilisationsprozeß.

Hans Peter Duerr, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988–2002:
1. Nacktheit und Scham (1988);
2. Intimität (1990);
3. Obszönität und Gewalt (1993);
4. Der erotische Leib (1997);
5. Die Tatsachen des Lebens (2002).

In seinem Buch Über den Prozeß der Zivilisation, das erstmals 1939 in zwei Bänden in Basel veröffentlicht wurde, versucht Norbert Elias die These zu untermauern, daß im Verlauf des letzten halben Jahrtausends der Triebhaushalt der Europäer, gleichsam ihre »animalische Natur«, in zunehmendem Maße domestiziert worden ist. Affekte, Emotionen, Nacktheit, körperliche Funktionen seien aus dem Bereich des Öffentlichen verdrängt worden. Nachdem die Europäer sich dergestalt zivilisiert hätten, bezogen sie auch die »Primitiven«, d.h. noch eher »urtümlichen« Gesellschaften in den Zivilisierungsprozeß ein.

Elias’ Werk erschien in zweiter Auflage erst 1969 und in dritter Auflage 1976. Diese Neuauflagen fielen in die Zeit der 68er »Revolution« und ihre Nachwehen. Elias’ Darstellung des Zivilisationsprozesses wurde daher dankbar aufgenommen, schien sie doch die in den entsprechenden intellektuellen Kreisen gepflegte Fundamentalkritik an Kultur und Zivilisation der westlichen Welt auf ein anthropologisch gefestigtes Fundament zu stellen.

Wir haben also gesehen, daß allem Anschein nach Nacktheit und Scham nicht nur in der Antike und im Mittelalter, sondern auch in fremden, angeblich primitiven Gesellschaften so eng miteinander verbunden sind, daß vieles für die Wahrheit des biblischen Mythos spricht, nach dem die Scham vor der Entblößung des Genitalbereiches keine historische Zufälligkeit ist, sondern zum Wesen des Menschen gehört.

Duerrs gewaltiges Werk ist der Zurückweisung der von Elias propagierten Theorie der Zivilisation gewidmet. Durch eine ehrfurchtgebietende und kaum überschaubare Fülle von ethnographischen und historischen Belegen weist er überzeugend nach, daß die »animalische Natur« der Menschen der Antike, des Mittelalters und der sogenannten »primitiven« Gesellschaften keineswegs weniger domestiziert war und ist als jene des modernen Menschen. Schamgefühl ist eine transkulturelle Universalie; sie greift auch bei Nacktheit, etwa durch das gebotene Vermeiden des Blickes auf die Genitalien.

Im Grunde handelt es sich bei der Theorie des Zivilisationsprozesses auch um eine Variation über die Denkfigur des »Edlen Wilden«, der in seiner »Natürlichkeit« der »Künstlichkeit« des modernen Menschen gegenübergestellt wird. Die von Norbert Elias und seiner Schule vertretene Zivilisationstheorie hält Duerr daher für einen »Mythos«. In diesem »mythisch« geprägten Blick auf sich selbst hat sich unsere Gesellschaft meist selber gefeiert – oder auch in Frage gestellt. Die Zivilisationstheorie vermittelt jedoch ein Zerrbild vergangener und fremder Kulturen. Damit verweist Duerr auf ihre doppelte Funktion. Einerseits diente der »Mythos« zur Rechtfertigung des Kolonialismus und seiner »zivilisierenden Mission«, andererseits konnte er durch die imaginäre Kontrastfolie der fremden Kulturen als Vehikel der Kritik an der eigenen westlichen Kultur instrumentalisiert werden.

Mit seiner Kritik an der Zivilisationstheorie hat sich Duerr um eine realitätsnahe Sicht auf die menschliche Natur sehr verdient gemacht. Sein anthropologischer Befund ist mit der utopistischen Doktrin der grenzenlosen Formbarkeit des Menschen unvereinbar.

Ausgabe

  • Taschenbuchausgabe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994–2005.

Literatur

  • Kenneth Anders: Die unvermeidliche Universalgeschichte. Studien über Norbert Elias und das Teleologieproblem, Opladen 2000.
Der Artikel wurde von Thomas Bargatzky verfaßt.