Der Mensch

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Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt,
Arnold Gehlen, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1940.

Es gibt wenige Kernbegriffe der Philosophischen Anthropologie, die gleichzeitig so bekannt sind und so oft mißverstanden wurden wie der des »Mängelwesens«. Gehlens Behauptung, daß der Mensch als »normalisierte Frühgeburt« anzusprechen sei, ohne die Reifemerkmale, die erwachsene Tiere haben, ohne hinreichende Ausrüstung, um sich zu schützen oder gegen Rivalen durchzusetzen, vor allem aber unspezialisiert und instinktarm, und daß es diese Menge von Defiziten sei, die den Erfolg unserer Spezies erst ermöglichte, hat für allgemeine Irritation gesorgt und gerade den Widerspruch der Biologen hervorgerufen, um deren Verständnis Gehlen warb. Tatsächlich war seine Grundidee zu weit entfernt von Annahmen, die noch ganz im Bann der »Höherentwicklung« standen und mehr oder weniger offen dem Gedanken folgten, daß auch die Naturwissenschaft beweise, was man immer gewußt hatte: der Mensch als »Krone«, wenn nicht der Schöpfung, dann des evolutionären Prozesses.

»Wenn der Mensch keine organischen Mechanismen hat, die ihm in ihrer tierisch-bornierten Angepaßtheit das Handeln abnehmen, wenn er in seiner Mittellosigkeit den Überdruck der Antriebe in aktiven Kämpfen um das Lebensnotwendige verarbeiten muß, so ist es, anders gesagt, das natürliche Bedürfnis seines Antriebslebens selbst, gehemmt und ausgelesen, formiert und gezüchtet zu werden.«

Bei Gehlen fehlen solche Urteile über den homo sapiens, ohne daß er dessen Fähigkeiten geringschätzte. Er neigte nur dazu, die Fragilität der Spezies zu betonen, die »konstitutionelle Chance zu verunglücken«, das Unwahrscheinliche ihrer Durchsetzung und des Zusammenspiels von Faktoren, die den Menschen ermöglichten: ein »Schoß der Natur«, der unseren Vorfahren erlaubte, trotz Wehrlosigkeit zu überleben, bis die entscheidenden Fähigkeiten – Sprache und »Handlung« – so weit ausgebildet waren, daß sie die notwendige »Entlastung« erlaubten, um jenen Siegeszug anzutreten, der den Menschen schließlich über den ganzen Erdball verbreiten und zum Herrn der Welt machen sollte. Das war nur möglich, weil er die Schwächen seiner »ersten« durch die Stärken seiner »zweiten Natur« kompensierte.

Denn das »Mängel-« ist auch das »nicht festgestellte« Wesen, das einen unvergleichlichen Spielraum gewinnt und zum »Prometheus« werden kann, dem kulturschaffenden Heros, der immer neue Ordnungen stiftet und die Gefährdungen durch die feindliche Umwelt beseitigt. Diese Leistung kann aber nicht ständig wiederholt werden. Gehlen hat betont, daß man als »wesentlichen Grundzug aller kulturellen Gestaltungen die Richtung auf Dauer« hervorheben müsse und deshalb im Schlußteil der ersten drei Auflagen von Der Mensch (1940, 1941, 1944) die Bedeutung der »Obersten Führungssysteme« hervorgehoben, die auf »Zuchtbilder« zurückgreifen, um jene »Zucht« bzw. Erziehung zu gewährleisten, die den Menschen in die Institutionen einpaßt, um die Ordnung zu bewahren.

Man warf ihm später vor, hier in nationalsozialistischen Jargon verfallen zu sein, und die letzten drei Kapitel des Buches fehlen in den Nachkriegsausgaben. In der Sache hat Gehlen allerdings nichts zurückgenommen und zu Recht darauf verwiesen, daß seine Anthropologie 1940 wegen der Absage an die Rassenlehre so wenig orthodox war wie im Jahr 1950, als die erste von insgesamt vierzehn Nachkriegsauflagen des Menschen erschien und eine skeptische Anthropologie kaum zum Optimismus des Wiederaufbaus passen wollte.

Heute liegt die Phase, in der es genügte, (unter dem maßgeblichen Einfluß von Jürgen Habermas) Gehlen wahlweise gefährlich oder belanglos zu finden, weit zurück. Parallel zur Wiederentdeckung der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts geriet auch die Philosophische Anthropologie in das Blickfeld und damit Gehlens zentrale Rolle innerhalb eines Denkansatzes, dessen Bedeutung kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, zumal er erlaubt, das politische Denken vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Ausgabe

  • Textkritische Edition in Bd. 3 der Gesamtausgabe (in 2 Teilbänden), hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M.: Klostermann 1993.

Literatur

  • Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2007.
  • Christian Thies: Gehlen zur Einführung, Hamburg 2007.
  • Karlheinz Weißmann: Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus, Schnellroda 2004.
Der Artikel wurde von Karlheinz Weißmann verfaßt.