Das sogenannte Böse

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Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression,
Konrad Lorenz, Wien: Borotha- Schoeler 1963.

In den fünfziger und sechziger Jahren beherrschten die Sozialwissenschaften das öffentliche Bewußtsein davon, was das Wesen des Menschen ausmache. Besonders einflußreich waren die stark marxistisch geprägte Soziologie, der amerikanische Behaviorismus und die Psychoanalyse. Gemeinsam war diesen Richtungen die Vorstellung, daß das »Böse« im Menschen, mithin auch die menschliche Aggressivität, gesellschaftliche und nicht biologische Ursachen habe. Erst die Herrschaftsstrukturen in der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft, mit der durch sie verursachten Ungerechtigkeit und Triebunterdrückung (zum Beispiel in der Familie), brächten Aggressionen hervor. Seiner Natur nach sei der Mensch gut bzw. ein noch unbeschriebenes Blatt, das seine Prägung erst durch die Gesellschaft erhalte.

Vor diesem Hintergrund mußte die 1963 von dem österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz in Das sogenannte Böse vertretene Kernthese – die innerartliche Aggression und zwar auch die des Menschen, sei nicht nur biologisch verankert, sondern erfülle auch einen sinnvollen Zweck – geradezu revolutionär erscheinen. Anhand von zahlreichen Beispielen aus der Natur zeigt Lorenz, daß die Aggression der Erhaltung der Art dient. Zum Beispiel, wenn sich in der Auseinandersetzung um den Zugang zu einem fortpflanzungsbereiten Weibchen das stärkere Männchen und somit die besseren Gene durchsetzen. Eine angeborene Tötungshemmung sorgt dafür, daß es in solchen Kommentkämpfen nicht zum Äußersten kommt. Lorenz sah in der Fähigkeit zur Aggression sogar die biologische Wurzel von Freundschaft und Intimität. Denn nur bei Arten, die nicht nur ein anonymes Schwarmverhalten zeigen, sondern zwischen eigenen und fremden Gruppenmitgliedern unterscheiden können, kann Vertrautheit den natürlichen Aggressionstrieb unterlaufen.

»Das ist der Januskopf des Menschen: Das Wesen, das allein imstande ist, sich begeistert dem Dienst des Höchsten zu weihen, bedarf dazu einer verhaltensphysiologischen Organisation, deren tierische Eigenschaften die Gefahr mit sich bringen, daß es seine Brüder totschlägt, und zwar in der Überzeugung, dies im Dienste eben dieses Höchsten tun zu müssen. Ecce homo!«

Das Buch wurde zu einem großen Erfolg und erreichte innerhalb kurzer Zeit die Bestsellerliste des Spiegel. Es machte Lorenz populär und stieß eine bis in die siebziger Jahre anhaltende öffentliche Diskussion an. Während die meisten Naturwissenschaftler die Kernthese des Buches bejahten, wurde sie vom sozialwissenschaftlichen Establishment als »biologistisch« verworfen. Man unterstellte Lorenz, er wolle mit seinem Buch Gewalt und Kriege rechtfertigen. Trotzdem bewirkte das Buch einen entscheidenden Durchbruch hin zu einer evolutionsbiologischen Erklärung des menschlichen Verhaltens, wie sie heute die evolutionäre Psychologie und die Soziobiologie vertreten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß, wie wir heute wissen, auch die Tötung von Artgenossen, zum Beispiel der Kinder eines verdrängten Rivalen (Infantizid), in der Natur nichts Ungewöhnliches ist und daß letztlich nicht das Artwohl, sondern der »Egoismus der Gene« die evolutionäre Grundlage des Verhaltens darstellt.

Ausgabe

  • Taschenbuchausgabe, München: dtv 2007.

Literatur

  • Kurt Kotrschal/Gerd Müller/Hans Winkler (Hrsg.): Konrad Lorenz und seine verhaltensbiologischen Konzepte aus heutiger Sicht, Fürth 2001.
  • Franz M. Wuketits: Konrad Lorenz. Leben und Werk eines großen Naturforschers, München 1990.
Der Artikel wurde von Andreas Vonderach verfaßt.