Arnold Gehlen

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Gehlen, Arnold,
geb. 29. Januar 1904 Leipzig,
gest. 30. Januar 1976 Hamburg.
Datei:Gehlenfoto3.png
Arnold Gehlen

Nach dem Studium der Philosophie, Psychologie, Kunstgeschichte und Germanistik in Leipzig und Köln wurde Gehlen 1927 zum Dr. phil. promoviert, drei Jahre später habilitierte er sich. Seine zwischen Phänomenologie und Existenzphilosophie angesiedelte wissenschaftliche Arbeit (vor allem Wirklicher und unwirklicher Geist, 1931) befriedigte ihn auf lange Frist sowenig wie der Schritt zur streng idealistischen Theorie der Willensfreiheit (1933). Politisch trat Gehlen in dieser Zeit nicht hervor, obwohl er als Assistent von Hans Freyer am Soziologischen Institut der Universität Leipzig unmittelbare Berührung mit einem der führenden Köpfe der Konservativen Revolution hatte.

Daß Gehlen am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP wurde, hatte in erster Linie mit taktischen Erwägungen zu tun. Tatsächlich war Gehlen kein Nationalsozialist im konventionellen Sinn. Er hatte, wie viele Bürger, die Hoffnung, daß Hitler das drohende politische Chaos abwenden könne und die NS-Bewegung die notwendige »Homogenisierungskraft« besitze, um den Zerfall der Gesellschaft zu verhindern. Während der dreißiger Jahre übernahm Gehlen in verschiedenen Parteigliederungen Aufgaben als Funktionär, und der Duktus seiner Gelegenheitsarbeiten für Zeitungen und Zeitschriften war stark vom NS-Jargon bestimmt. Aber es war seine außergewöhnliche Begabung, die ihm eine rasche akademische Karriere ermöglichte. Bereits im November 1934 erhielt Gehlen eine Professur für Philosophie in Leipzig, 1938 bewarb er sich erfolgreich auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg und wechselte 1940 noch einmal nach Wien.

In diesem Jahr veröffentlichte Gehlen sein Hauptwerk, Der Mensch. Dieser anthropologische Entwurf, in dem er Erkenntnisse der Philosophie, Soziologie, Psychologie und Biologie zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen wollte, ohne dem traditionellen Leib-Seele-Schema zu folgen, fand aber nur ein geteiltes Echo. Trotz der Anpassungen im Text – etwa durch die Verwendung von Rosenbergs Begriff des »Zuchtbildes« – und der Betonung der »Obersten Führungssysteme« für die Funktionstüchtigkeit des Staates, blieb die Zustimmung von offizieller Seite verhalten. Gehlens These, daß der Mensch ein »organisches Mängelwesen« sei, das allein durch planendes »Handeln« zum »Prometheus « werde und die Grundlagen seines Überlebens schaffe, wurde als »individualistisch und wesentlich unpolitisch« kritisiert, und andere Rezensenten wiesen auf die fehlende Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Rassenlehre hin.

Tatsächlich blieb die innere Distanz zum Regime immer spürbar, ohne daß Gehlen jemals in Opposition gegangen wäre. Seit 1942 durch den Heeresdienst aus dem wissenschaftlichen Betrieb ausgeschieden, sah er sich nach Kriegsende vor der Notwendigkeit, eine neue Existenz aufzubauen. Angesichts der relativen Zurückhaltung der französischen Besatzungsmacht in Entnazifizierungsfragen, konnte er schon 1947 einen Lehrstuhl an der neugegründeten Verwaltungshochschule in Speyer übernehmen, 1962 wechselte er noch einmal an die Technische Hochschule Aachen, an der er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1969 verblieb. Das an akademischen Würden arme Leben Gehlens in der Nachkriegszeit tat seiner Wirksamkeit allerdings keinen Abbruch. Neben zahlreichen Aufsätzen, publizierte Gehlen noch zwei grundlegende Werke, die er als Fortsetzung von Der Mensch betrachtete: 1956 den Band Urmensch und Spätkultur und 1969 das Buch Moral und Hypermoral.

In Urmensch und Spätkultur hat Gehlen, über das hinausgehend, was in Der Mensch zum Thema schon gesagt war, seine Lehre von den Institutionen entwickelt. Anders als zuvor, lag hier der Akzent aber nicht mehr auf der Biologie, sondern auf der Vor- und Frühgeschichte, Gehlen entfaltete eine eigene Anschauung über die Bedeutung der »politischen Theologie«, wenn er darauf beharrte, daß alle Institutionen »ursprünglich Transzendenzen ins Diesseits im Vollsinne« gewesen seien. Institutionen waren seiner Meinung nach aber nicht nur göttlichen Ursprungs, sie besaßen auch eine »theogonische« Fähigkeit. Ohne die religiöse Scheu vor der Verletzung eines Gesetzes wäre der Respekt gegenüber den Institutionen gar nicht zu erklären.

Allerdings gilt das, strenggenommen, nur für die archaische Zeit. Bereits die Durchsetzung des Monotheismus – und die mit ihr einhergehende Desakralisierung des Diesseits – habe, so Gehlen, den ursprünglichen Nimbus aller Institutionen beschädigt, und doch müßten Institutionen – trotz der Zerstörung des ursprünglichen Zusammenhangs von Kult und Politik – weiter »Mehr-als-Zweck-Institute« sein, um Bestand zu haben. Die Institutionen führen nicht nur zu »Außen-«, sondern auch zu »Innenstabilisierung«, zu »wohltätiger Fraglosigkeit«, und der »Bestand einer jeden Kultur ist nur dann gesichert, wenn ein … Unterbau gewohnheitsmäßigen, auf Außensteuerung abgestellten Verhaltens vorhanden ist, auch wenn dieses damit notwendig formalisiert wird«.

»Die Epheser, welche den Tempel ihrer Stadtgöttin Artemis mit einem Seil an der Stadtmauer festbanden (Herod. 1,26), hatten es einfacher.«

Gehlen mußte Ende der sechziger Jahre erleben, daß das Bewußtsein von der Notwendigkeit der Institutionen immer weiter verschüttet wurde. Unter den besonders verlockenden Umständen der Wohlstandsgesellschaft schien sich die Möglichkeit zu bieten, daß »protestlerische Selbstbetonung « folgenlos blieb. Der Einspruch gegen diese Tendenz war das Thema des letzten Buches, das Gehlen geschrieben hat und das 1969 unter dem Titel Moral und Hypermoral erschien. Es war zugleich Gehlens erstes im engeren Sinne politisches Buch und zeigte ein glänzendes polemisches Talent. Der Band trug den Untertitel »Eine pluralistische Ethik«, und tatsächlich ging es dem Verfasser hier um den Nachweis, »daß es mehrere voneinander funktionell wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative Instanzen im Menschen gibt«. Gehlen hat sich für seine Forderung nach einer »pluralistischen Ethik« auf das Vorbild aller differenzierten Gesellschaften berufen, die ja immer verschiedene Tugenden für verschiedene Lebensbereiche kannten.

Es ging ihm aber unter den aktuellen Gesichtspunkten vor allem um das Widerspiel zweier Moralen: der Kleingruppen- oder Familienmoral und der politischen Moral. Gehlen wandte seinen ganzen Scharfsinn auf, um die Fragwürdigkeit des »Humanitarismus« aufzuzeigen, jener Utopie, die jede auf Erhaltung der staatlichen Ordnung, ja der Institutionen überhaupt, gerichtete Bemühung unterlief. Individualismus und Universalismus würden in einen direkten Zusammenhang gebracht, die »überdehnte Hausmoral« zum Maßstab jeder Handlung und eben auch der staatlichen gemacht. Aber ihre an der Intimität orientierten Normen – so Gehlen – blieben ungeeignet für die politische Aktion, bei der der Besitz von Macht eine unabdingbare Voraussetzung sei.

Gehlens Hoffnung, daß sich an der von ihm diagnostizierten Situation etwas ändern ließe, war nur gering. Bereits 1961 entwickelte er in einem Vortrag die These, daß die westliche Welt in einen Zustand der »Kristallisation« übergegangen sei, der durch »Überraschungslosigkeit« und das Verschwinden der »großen Schlüsselattitüde« gekennzeichnet sei. Solche Kristallisationen habe es in der Vergangenheit zwar immer wieder gegeben, aber die entsprechende Tendenz sei in der »industriell- technisch-szientifischen« Welt übermächtig. Die »kristallisierte Gesellschaft« der Gegenwart biete zwar noch einige »Spielplätze höherer Art«, aber das sei »Beweglichkeit auf stationärer Basis«, stärker wirkten in ihr der Sachzwang der industriellen Produktion und die Tendenz der Massen, die »ihren Hang zum Konformismus durchsetzen«.

Gehlen hat den Begriff der cristallisation sociale von dem französischen Philosophen A. A. Cournot übernommen, auf den auch der Begriff des post-histoire zurückgeht. Nach dem Ende der ideologischen und heroischen Geschichte – so schon Cournot – würden Technik, Wissenschaft, moderne Fabrikation und Verstädterung sowie Medieneinfluß einen historisch einmaligen Zustand heraufführen, der von Rationalität, Nivellierung der gesellschaftlichen Unterschiede und bereitwilliger Einordnung der Bevölkerung in ein System gekennzeichnet sei, das ihr Sicherheit und wachsenden Wohlstand verspreche.

Gehlen hat aus seiner persönlichen Aversion gegen diese schöne neue Welt keinen Hehl gemacht, aber auch darauf hingewiesen, daß es keine Kulturkritik gäbe, die die Entwicklung wirklich treffen könne. Die Affekte gegen die »Vermassung« hielt er für den Ausdruck von Hilflosigkeit und politischer Romantik. Gehlen betrachtete jede antimoderne Einstellung mit einer gewissen Amüsiertheit, weil die Geschichte – auf die sich alle Kulturkritik mit Vorliebe beruft – keine oder doch fast keine Maßstäbe bereithalte, um den globalen Prozeß zu beurteilen, dem die Menschheit seit fast zweihundert Jahren ausgesetzt sei. Nach seiner Auffassung habe sie eine »absolute Kulturschwelle« überschritten, die nur mit der »Neolithischen Revolution« vergleichbar sei. Die Existenzweise des modernen Menschen sei deshalb krisenhaft in einem »totalen« Sinn und wesentlich widerspruchsvoller als die seiner Vorgänger. Die Aufforderung, der industriellen Welt nicht auszuweichen, sondern nach Lösungen im Sinne einer realistischen Option zu suchen, hat Gehlen neben Carl Schmitt zum bedeutendsten Rechtsintellektuellen der Nachkriegszeit und zum geistigen Vater des »technokratischen Konservatismus« gemacht.

Schriften

  • Gesamtausgabe, bisher erschienen sind die Bände 1 (Philosophische Schriften I), 2 (Philosophische Schriften II), 3 (Der Mensch; zwei Teilbände), 4 (Philosophische Anthropologie und Handlungslehre), 6 (Die Seele im technischen Zeitalter) und 7 (Einblicke), Frankfurt a. M. 1978–2004.
  • Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956.
  • Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M./Bonn 1960.-
  • Moral und Hypermoral, Frankfurt a. M. 1969.

Literatur

  • Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung im 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2008.
  • Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hrsg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1994.
  • Karl-Siegbert Rehberg: »Ordnung ist kein Gefängnis« – Zu Leben und Werk Arnold Gehlens, in: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie (2005), Heft 1/2.
  • Christian Thies: Gehlen zur Einführung, Hamburg 2004.
  • Karlheinz Weißmann: Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus, Schnellroda 2004.
  • Patrick Wöhrle: Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Weg und Wirkung Arnold Gehlens, Frankfurt a. M. 2010.
Der Artikel wurde von Karlheinz Weißmann verfaßt.