Das Echolot

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Das Echolot.
Walter Kempowski, 10 Bde., München: Albrecht Knaus 1993–2005:
1. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943 (4 Bde., 1993);
2. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945 (4 Bde., 1999);
3. Barbarossa ’41. Ein kollektives Tagebuch (2002);
4. Abgesang ’45. Ein kollektives Tagebuch (2005).

Walter Kempowskis Buchprojekt Echolot umfaßt knapp 9 000 Seiten. Die enormen Textmassen gliedern sich in vier Teile und zehn Einzelbände, die im Verlauf von zwölf Jahren erschienen sind. Befürworter und Kritiker stimmten von Anfang an darin überein, daß es sich um eines der ungewöhnlichsten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur handelt. Kempowskis Autorenschaft beschränkte sich fast gänzlich darauf, fremde Texte unterschiedlichster Art und Herkunft zu sichten, zu ordnen, auszuwählen und zu montieren. In der Mehrzahl wurden sie während des Zweiten Weltkriegs verfaßt: Briefe, Tagebuchnotizen, Pressemeldungen, militärische Lageberichte, Flugblätter, Einträge in Sterbebücher und vieles mehr. Hinzu kommen einige nachträgliche Erinnerungen von Zeitzeugen.

Kempowski konzentrierte sich auf vier exemplarische Zeitabschnitte: auf den Sommer und Winter 1941, als der deutsche Militärschlag gegen die Sowjetunion erfolgte und die Blitzkriegstrategie in der Schlacht vor Moskau schließlich scheiterte; auf das Stalingrad-Debakel Anfang 1943; auf den Kriegswinter 1945, als die Truppen der Anti-Hitler-Koalition auf das Reichsgebiet vordrangen und Flucht und Vertreibung einsetzten, sowie auf fünf Tage in der unmittelbaren Endphase des Krieges in Europa. Der Schlußband beginnt mit dem 20. April 1945, Hitlers letztem Geburtstag, wird fortgesetzt mit dem 25. und 30. April, dem Todestag des Diktators, und endet mit dem 8. und 9. Mai, den Tagen der Kapitulation bzw. – in Rußland – des Sieges.

Zu Wort kommen Deutsche und Ausländer, Politiker, hohe NS-Repräsentanten und Militärs, KZ-Insassen, Exilanten, Widerständler, Kriegsgefangene, Soldaten, Opfer politischer und rassischer Verfolgung, Auslandskorrespondenten, Schriftsteller und vor allem der sprichwörtliche »Mann von der Straße«. Die Notate berichten über den Alltag an den Fronten und in den zerbombten Städten genauso wie über die Königsebene der Staatsmänner und militärischen Entscheidungsträger. Ausschlaggebend für die Auswahl der Texte war ausschließlich ihre Relevanz, die sich aus der Stellung oder Bekanntheit der Verfasser, aus dem informativen Gehalt oder der atmosphärischen Dichte der Schilderung ergab. So stehen die Tagebucheintragungen von Propagandaminister Joseph Goebbels neben denen des Schriftstellers Jochen Klepper, der mit seiner jüdischen Frau in den Tod ging, und so unterschiedlicher Autoren wie Albert Camus, Ilja Ehrenburg und Julien Green.

Der besondere dokumentarische Wert des Echolots aber ergibt sich erst aus der Verarbeitung privater Tagebücher, Briefe, Dokumente, die Kempowski in jahrzehntelanger Sammlertätigkeit zusammengetragen und in einem riesigen Archiv in seinem Haus in Nartum bei Bremen versammelt hatte. Kempowski beließ auch den ungeübten Stimmen ihre Authentizität. Die Menschen geben das Banale wie das Ungeheuerliche, das sie erleben, in der Sprache wieder, die ihnen zur Verfügung steht und ihr jeweiliges Wissen und ihre Einsichten widerspiegelt. Dadurch entsteht ein überzeugendes Zeitpanorama und immer wieder auch die für Kempowskis Gesamtwerk typische Tragikomik. So drückt eine zwanzigjährige Deutsche ihr Entsetzen über die KZ-Greuel, von denen sie eben erfahren hat, im Tonfall der properen Hausfrau aus: »Was müssen die Feinde von uns denken!«

Aus der Nachkriegsliteratur ragt das Echolot weiterhin durch den Verzicht der deutschlandzentrierten Geschichtsmetaphysik heraus, die für das bundesdeutsche Kultur- und Geistesleben konstitutiv ist. Der Titel Echolot bezieht sich auf ein in der Seefahrt verwendetes Gerät zur akustischen Messung von Wassertiefen. Das bedeutet, daß Kempowski sich als Medium, nicht als Richter der geschichtlichen Ereignisse und ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen versteht. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, die Bestandteile seiner Geschichtscollage sinngebend miteinander in Beziehung zu setzen.

»Das zweite Bild, an das ich erinnern möchte, ist die »Alexanderschlacht« von Albrecht Altdorfer, aus dem Jahr 1529: jenes bekannte Gemälde, auf dem Tausende von Kriegern auszumachen sind, die gegeneinander wogen, um einander umzubringen. Menschen ohne Namen, Todgeweihte, längst vermodert und vergessen, und doch Männer, die Frau und Kind zu Hause sitzen hatten, deren Keime wir als Nachkommen in uns tragen.«

Dieses Zutrauen in den mündigen Leser brachte ihm den Vorwurf ein, er verharmlose die Schrecken des Nationalsozialismus. Einflußreiche Literaturkritiker wie Fritz J. Raddatz bestritten den Literatur- Charakter der Textmontagen. Marcel Reich-Ranicki sprach in der ZDF-Sendung »Literarisches Quartett« abschätzig von »Telefonbüchern«. Hingegen schrieb FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher von »einer der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts«. Mit der Vollendung des Zyklus setzten die positiven Einschätzungen sich weitgehend durch. Dafür sorgten neben dem Publikumserfolg auch die Reaktionen jüngerer Autoren. So bekundete der ehemalige Pop-Literat Benjamin von Stuckrad-Barre mehrmals seine Bewunderung für Walter Kempowski. Den Sympathien für den langjährigen Außenseiter des Literaturbetriebs entsprach der Überdruß an einer didaktischmoralisierenden Literatur, die durch Heinrich Böll und Günter Grass personifiziert wurde. Mit dem Echolot wurde Kempowski als einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur anerkannt. Die umfangreiche Kempowski-Ausstellung, die Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2007 in der Akademie der Künste in Berlin eröffnete und die vielfach Bezug auf das Echolot nahm, war eine der größten Dichterwürdigungen der Bundesrepublik.

Ausgabe

  • Taschenbuchausgabe, 10 Bde., München: btb 2004–2007.

Literatur

  • Volker Hage: Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen, München 2009.
  • Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum »Echolot«, München 2005.
Der Artikel wurde von Thorsten Hinz verfaßt.