Das abenteuerliche Herz

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Das abenteuerliche Herz. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht,
Ernst Jünger, Berlin: Frundsberg 1929.

Das abenteuerliche Herz markiert in Jüngers Schaffen eine »Akzentverlagerung von einer rein politisch intendierten Publizistik zu einem literarisch ambitionierten Schreiben« (Helmuth Kiesel). Es ist ein Loblied auf die »lebendige Fülle der Welt«, die »Ästhetik des Schreckens« (Karl Heinz Bohrer) eingeschlossen. Insgesamt umfaßt es fünfundzwanzig tagebuchartige Stücke, die ohne Datum, jedoch mit Ortsangaben (v.a. Berlin und Leipzig) aneinandergereiht sind - eine Sammlung aus Traumsequenzen, Lektüreerlebnissen, Beobachtungen und ausführlicheren Reflexionen. Berühmt und berüchtigt geworden sind Stücke wie jenes über das »Entsetzen« (3. Stück), das Lob der »Temperaturerhöhung« und des »Sprengstoffes«, damit »der Lebensraum leergefegt werde für eine neue Hierarchie« (23. Stück), oder der Schlußtext über den »preußischen Anarchisten« und die »inneren Flügel« der Jugend. Nihilistisch ist das Werk dort, wo Jünger von einem »magischen Nullpunkt« schreibt, den es nicht nur zu durchschreiten, sondern zunächst zu begrüßen gelte. Die nivellierende Macht der Moderne wird so zur geschichtlichen Notwendigkeit, die gewollt werden muß. Die Risse in der überkommenen Welt zu leugnen, ist Nostalgie, die dem Verfall und der Unsicherheit innewohnenden Möglichkeiten einer Wiederverzauberung zu entdecken und zu beschreiben, ist die eigentliche epochale Leistung.

Entscheidende Bedeutung kommt der Methode zu, mit der Jünger diese »Überwindungsbestrebungen« betreibt - er beschreibt sie im Abenteuerlichen Herzen als »stereoskopisches Wahrnehmen« (14. Stück), als ein letztlich mehrwertiges Wahrnehmen der Dinge. Dieser Begriff ist nicht scharf definiert, Jünger setzt beim Leser ein Verstehen aufgrund sparsamer Andeutungen voraus: Nur dann, wenn man als Beobachter, Leser, Träumer der nüchternen Oberflächenbeschreibung durch die stereoskopische Wahrnehmungsgabe zusätzliche Dimensionen hinzufügen könne, erhalte man eine Ahnung oder sogar Gewißheit von der »tieferen Harmonie« und »geheimen Verwandtschaft« der Dinge - und vor allem so ist der Vorgang der Neuverzauberung der Welt ins Werk zu setzen.

»Mögen wir im Gegenteil immer bei denen sein, die eines Tages ausziehen, fest in den Steigbügeln und mitten in die Sonne hinein, mit dem festen Glauben an sich und die Schatzkammern der Welt.«

Die stereoskopische Wahrnehmung sei der »magische Schlüssel« für diesen besonderen »Aufschluß der Wirklichkeit«, schreibt Jünger im 20. Stück, in einer jener wenigen Stellen, die den Leser mit »Du« direkt ansprechen und zu einem Einverständnis mit der Erkenntnis des Autors und zur Einübung in den Nachvollzug geradezu auffordern. Dieser mobilisierende Ton des Abenteuerlichen Herzens, seine dynamisierende Wirkung beläßt das Werk dann doch in der Nähe der politischen Publizistik: Es wird bis heute als »geistige Mobilmachung« gelesen, als nationalistischer Schlüsseltext, als Anrufung deutscher Geistestradition (vor allem der Romantik) und ihrer radikalen Modernisierung und Indienststellung für die Sache der Nation. Diese »Sache« war 1929 nichts anderes als die Vorbereitung auf eine Revanche für den verlorenen Ersten Weltkrieg und die Folgen dieser Niederlage für das Deutsche Reich.

Jünger-Biograph Kiesel bestimmt Das abenteuerliche Herz zu Recht als »das Portrait eines Phänotyps der Epoche in der dafür am besten geeigneten und innovativen Form des >Orangenstils< oder der >absoluten Prosa<«, Begriffe, die Gottfried Benn in seiner Autobiographie Doppelleben (1950) geprägt hat: Fruchtstück um Fruchtstück sei die Orange um die weiße zähe Wurzel, den Phänotyp, ange-12 ordnet und auf ihn bezogen. Jünger habe dieses Konstruktionsprinzip im Abenteuerlichen Herzen künstlerisch und intuitiv vorwegnehmend umgesetzt. Daß er seine Aufzeichnungen für exemplarisch hielt, führte Jünger im 1. Stück explizit aus: Sein Grunderlebnis sei das »für meine Generation typische Erlebnis«, eine »an das Zeitmotiv gebundene Variation«.

Das abenteuerliche Herz entstand, als Jünger auf dem Höhepunkt seiner verbalen Radikalität angekommen war. Zuvor hatte er mit Feuer und Blut (1925) seine Bearbeitung der Weltkriegserlebnisse abgeschlossen, danach legte er mit Die totale Mobilmachung (1931) und Der Arbeiter (1932) wiederum keine literarischen Arbeiten vor. Es ist deshalb von Bedeutung, daß Das abenteuerliche Herz Jüngers einziges Buch ist, das er - ausdrücklich kenntlich gemacht - in einer zweiten Fassung erscheinen ließ (1938). Er hat dabei den Untertitel Aufzeichnungen bei Tag und Nacht durch einen neuen (Figuren und Capriccios) ersetzt und von den Texten nur ein Drittel in diese überarbeitete Version übernommen. Jünger selbst sprach davon, daß es sich »weniger um eine zweite Auflage als um eine zweite Potenz« handle, um »ausgeglühtere Zustände« seiner Texte. Erst diese Fassung markiert Jüngers Wendung hin zu einer geradezu kontemplativen »Wahrnehmungselite« (Ulrich Fröschle), die im politischen oder publizistischen Aktivismus das eigentliche Feld nicht mehr zu erkennen vermag und an die subkutane Wirkung der ästhetischen Reflexion glaubt.

Ausgabe

  • Mit einem Vorwort von Michael Klett, Stuttgart: Klett-Cotta 2004.

Literatur

  • Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens, München 1978.
  • Ulrich Fröschle: Friedrich Georg Jünger und der »radikale Geist«, Dresden 2008.
  • Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007.
Der Artikel wurde von Götz Kubitschek verfaßt.