Hoher Meißner

Aus Staatspolitisches Handbuch im Netz
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Hessen, etwa 30 km südöstlich von Kassel

Für die deutsche Jugendbewegung sollte es einer der entscheidenden Impulse werden. Am 11. und 12. Oktober 1913 verkündete die Freideutsche Jugend, ein Zusammenschluß von damals 14 Jugendverbänden, auf dem Meißner im nördlichen Osthessischen Bergland ihr Programm und goß an jenem kühlen Herbstwochenende mit der Meißner-Formel ihre inhaltliche Übereinstimmung zu einer gemeinsamen Formulierung zusammen. Ihren Kern bildet die Lebensgestaltung »aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit«. Für diese innere Freiheit trete man »unter allen Umständen geschlossen ein«, ließen die Jugendbünde wissen und haben damit, wie man es hundert Jahre später ausdrücken wird, ihren »Markenkern« präzisiert: Äußere Form und Inhalte von Reden haben im Einklang mit dem eigenen Handeln und den inneren Einstellungen zu stehen!

Auch war jener erste »Freideutsche Jugendtag« im Oktober 1913 eine Gegenveranstaltung. Am Wochenende darauf wollte die wilhelminische Gesellschaft in Leipzig das wuchtige Völkerschlachtdenkmal zum hundertsten Jahrestag des Sieges über das napoleonische Frankreich einweihen. Das Treffen der Wandervögel in freier Natur war ein Kontrapunkt, bei dem ihr ganzer Lebensstil zum Ausdruck kam, der geprägt ist von einem Drang zur Freiheit. Schon in der Einladung hieß es: »Die Jugend, bisher aus dem öffentlichen Leben der Nation ausgeschaltet und angewiesen auf eine passive Rolle des Lernens, auf eine spielerisch-nichtige Geselligkeit und nur ein Anhängsel der älteren Generation, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig von den trägen Gewohnheiten der Alten und von den Geboten einer häßlichen Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten.«

Solch ein Postulat schien den Jugendlichen nötig. Als Jugendreich sah sich der Wandervogel bald nach seiner Entstehung mit Vorurteilen und Argwohn konfrontiert. Vom Liedgut bis zur Kleidung hatte man seinen eigenen Stil derart intensiv ausgeformt, daß sich Hans Breuer, Herausgeber des Liederbuchs Zupfgeigenhansl, gar der Hoffnung hingab, das deutsche Volk könne sich mittels des »Wandervogeldeutschen « innerlich befreien und in einem schöneren Sinne erneuern. Zu dieser Zeit hatten sich dem Wandervogel schon an die 25 000 Jugendliche im ganzen deutschsprachigen Raum angeschlossen und in 800 Ortsgruppen organisiert. Erst zwölf Jahre zuvor, am 4. November 1901, hatte in Berlin- Steglitz mit der Gründung einer Wandervogelgruppe durch einige Gymnasiasten alles begonnen.

»Was waren nun die Ideale des Wandervogels, die über das jugendliche Sonderleben hinaus für die Gesamtnation von Bedeutung wurden«, fragt der Autor Gerhard Ziemer, um die Antwort selbst zu geben: »Sie hatten zunächst alle den ganz außerordentlichen Vorzug, daß sie wirklich gelebt und nicht, wie sonst in Politik, Erziehung und Lebensreform weithin üblich, nur verkündet und gefordert wurden. Es gab im Wandervogel kein Weiterleben der Klassen, die unser Volk damals trennten. Gewertet wurde nur die Persönlichkeit des einzelnen, und auch diese unter höchstpersönlichen ethischen und charakterischen Gesichtspunkten.« Entsprechend habe es für den Wandervogel »als Wertschema in bezug auf den Menschen nur den Menschen selbst« gegeben.

Der Samstag, an dem die wohl rund 3 000 Teilnehmer auf den Meißner strömten, war regnerisch und kühl. Genaue Teilnehmerzahlen sind nicht belegt. Berichte schildern, wie sich die Gruppen zur Mittagszeit auf der nebligen Bergkuppe verteilten, nachmittags an sportlichen Wettkämpfen teilnahmen, zum Gesang zusammenkamen und abends mit Fackeln zum Feuerstoß zogen, um dort den Worten Knud Ahlborns zu folgen. Der 25jährige Bundesführer der Deutschen Akademischen Freischar forderte, die Gesellschaftsphänomene wie »Parteienkampf«, »Eigennutz« und »entseelte Arbeit« hinter sich zu lassen und diesen das »Gesunde und Echte« entgegenzusetzen. Er erwarte von der neuen Generation politische Toleranz, »die auch den Gegner unserer eigenen Anschauungen, einfach weil er ein Wahrheitssuchender ist, anerkennt und ehrt«.

Am Sonntag morgen hatte der 38jährige Reformpädagoge Gustav Wyneken das Wort. Er verlieh u. a. seiner Hoffnung Ausdruck, daß nie der Tag erscheine, »wo des Krieges Horden« die Heimat »durchtoben «, geschweige denn, »wo wir gezwungen sind, den Krieg in die Täler eines fremden Volkes zu tragen«. Ein frommer Wunsch: Schon ein Jahr später standen Tausende Wandervögel in der Champagne und in Flandern (➞ Langemarck, Verdun), und für zahllose wurde der Erste Weltkrieg zu ihrer allerletzten Fahrt. Abschließende Worte standen auf dem Meißner dem 56jährigen Dichter Ferdinand Avenarius zu. Der Hamburger Unternehmer und Stifter Alfred Toepfer, 1913 als 19jähriger Teilnehmer dabei, erinnerte sich 75 Jahre später bei einer Gedenkveranstaltung: »Gefordert wurde ein schlichter, einfacher Lebensstil in Brüderlichkeit und Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, eine kulturelle Erneuerung sowie Achtung und Friede gegenüber den übrigen Völkern. Es herrschte eine ungewöhnliche, jugendbewegte Hochstimmung.«

Auch zum 100. Gedenken im Oktober 2013 fanden wieder zahlreiche Angehörige der bündischen Jugend den Weg auf den Hohen Meißner. Der innere Einklang der Organisatoren und Protagonisten von heute mit der Meißner-Formel von damals läßt sich schwerlich messen. Interne Debatten im Vorfeld, welche vermeintlich »rechten« und »national« anmutenden Bünde von vornherein von der Veranstaltung auszuschließen seien, erscheinen jedoch als symptomatisch. Vielen der in der Jugendbewegung wurzelnden Jugendverbände fällt es heute sichtlich schwerer als einst den Gründern, dem Zeitgeist und seiner »häßlichen Konvention« zum Zweck der »inneren Freiheit« zu widerstehen. Unschwer erkennbar hat sich gerade seit den 1960er Jahren in Westdeutschland eine Form der Jugendpflege etabliert, die angesichts ihres Systems aus staatlichen Zuschüssen, Funktionärswesen und Beschäftigungstherapie für Jugendliche bei den Idealisten von 1913 wohl nur schwerlich auf Anerkennung gestoßen wäre. Allerdings: Auch nach einhundert Jahren ist die Welt der bündischen Jugend viel zu bunt, um diese Aussage für jeden gelten zu lassen.

Anläßlich einer Veranstaltung zur 75. Wiederkehr des Meißner-Treffens brachte Fritz-Martin Schulz, seit 1974 Bundesführer des Nerother Wandervogels, im Jahr 1988 die Haltung seines Bundes auf den Punkt: »Wir suchen nicht den Beifall der Öffentlichkeit, wir suchen auch keine neuen Wege, denn wir haben uns für einen Weg entschieden. Für den, dessen Aussage seit 1913 zum Symbol für die historische deutsche Jugendbewegung geworden ist. Ein Glaubensbekenntnis, abgesichert durch die Erfahrung von Generationen, bedarf keiner Interpretation, es muß gelebt werden. Es liegt an uns, ob wir das weiterhin vermögen, ohne in den äußeren Dingen zu erstarren.«

Literatur

  • Freideutsche Jugend (Hrsg.): Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913, Jena 1913.
  • Werner Kindt: Dokumentation der Jugendbewegung. Bd. II: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896 bis 1919, Düsseldorf 1968.
  • Winfried Mogge/Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913 - Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988.
  • Gerhard Ziemer/Hans Wolf: Wandervogel und freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961.
Der Artikel wurde von Gerald Franz verfaßt.