Die Frage Wozu?

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Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens,
Robert Spaemann/Reinhard Löw, München: Piper 1981.
Robert Spaemann (2015)

Spaemanns bedeutendes philosophisches OEuvre verbindet fundamentale naturphilosophische und anthropologische Studien, die den souveränen alteuropäischen Horizont mit Instrumentarien moderner angelsächsischer Philosophie in Verbindung bringen, mit brillanten Invektiven zur Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens, dem »unsterblichen Gerücht« der Gottesfrage, aber auch zum Verhältnis von Kirche und Staat. Spaemann berät Papst Benedikt XVI. in philosophischen Fragen. Er ist der vielleicht bedeutendste lebende Philosoph aus dezidiert katholischer Grundüberzeugung, der das Verhältnis von Glaube und Vernunft in eigenständiger Weise zu bestimmen weiß.

Die Frage Wozu? entstand aus Vorlesungen im Wintersemester 1976/77, die in gemeinsamer Arbeit mit seinem langjährigen Assistenten, dem Naturphilosophen Reinhard Löw, zu einem Buch ausgebaut wurden. Schon einleitend verweist Spaemann auf die Unhintergehbarkeit der »Warum«-Frage, die in der modernen Naturwissenschaft und ihrer Epistemologie aufgelöst worden ist. Sowohl im Verstehen wie im Erklären bedeutete die »Warum«- Frage die Wiederherstellung von Vertrauen des Menschen zur Welt als dem Seienden im Ganzen: im ersten Feld im Sinne des Aufweisens intentionaler Struktur, im zweiten im Sinne der Freilegung von Gesetzmäßigkeiten. Das Interesse an Teleologie besteht – nicht zuletzt vor der ökologischen Krise der Moderne – darin, Natur als vertraute jenseits des Herrschaftswissens »so anzueignen, daß wir unsere Zugehörigkeit zu ihr realisieren können, ohne zugleich unser Selbstverständnis als handelnde Wesen aufzugeben«.

»Das Mittel ist Mittel zum Zweck. Zweck aber ist das Ganze, das die Mittel selbst umgreift und integriert. Es ist den Mitteln nicht äußerlich. Dieses Ganze in seinem Selbstsein aber transzendiert das Mittel-Zweck-Verhältnis. Es ist ein Unmittelbares, das man überhaupt nicht erklären und in gewissem Sinne auch nicht verstehen oder eben nur so verstehen kann, daß es den Horizont seines möglichen Verstandenwerdens selbst erst in seinem Sich-Zeigen eröffnet.«

Zunächst wird eine prägnante Geschichte teleologischen Denkens in der abendländischen Philosophie entfaltet, deren souveräner Bogenschlag vom Platonischen Konzept des letzten Ziels über Aristoteles’ Lehre von der Bewegung und den vier Causae zur »Intellektualisierung« der Teleologie im Mittelalter, vor allem bei Thomas von Aquin, führt. Bei Thomas sieht Spaemann in der These, daß ein wirkendes Telos Bewußtsein und Geist voraussetzt, den Höhepunkt und zugleich die Peripetie der teleologischen Denkform. Im Nominalismus und Voluntarismus der Spätscholastik ist das Telos zunächst für unerkennbar erklärt worden; dann aber kommt es zu einer Inversion der Teleologie in dem Sinn, daß die ihren antiken Ausprägungen eigentümliche Selbsttranszendenz auf Selbsterhaltung zurückgebogen werde. Nur einer solchen invertierten Erhaltungsteleologie konnte Nietzsche seine Kritik entgegenhalten. Höchst aufschlußreiche Kapitel über versuchte Vermittlungen zwischen Teleologie und Universalmechanik in den großen rationalistischen Systemen – bei Leibniz, Wolff, vor allem aber in Kants Kritik der Urteilskraft – schließen sich ebenso an wie ein Blick auf die wenig erforschten Anknüpfungen an teleologisches Denken im Deutschen Idealismus.

Ein Höhepunkt ist die Nietzsche-Deutung, die freilegt, daß Nietzsches große Letztgedanken, »Übermensch« und »Ewige Wiederkehr«, aus ateleologischer Grundhaltung teleologische Muster nachhallen lassen. Den Todesstoß hat der Teleologie laut Spaemann die Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts versetzt. Dafür macht Spaemann insbesondere die Darwinsche Evolutionstheorie verantwortlich, die sich, fast wie eine Pseudoreligion, auf das gesamte Gebiet der Wissenschaft ausgeweitet hat. Haeckels Monismus kommt dabei eine Scharnierstellung zu. Die entteleologisierte Welt umfaßt Kosmos, Leben, den Menschen, aber auch die Dimension des Geistigen und des Sittlichen. Veritable Gegenpositionen zum Evolutionismus sind, sieht man von Hans Driesch ab, seitdem kaum mehr artikuliert worden.

Allgemein verständlich und zugleich auf höchstem philosophischem Niveau unternimmt Spaemann eine Gegenkritik an diesem dominanten Antiteleologismus: Sie zielt u. a. darauf ab, daß die »Anpassungstheorie « der Evolutionslehre ein »Zwitter« zwischen Transzendentalphilosophie und einer deskriptiv realistischen Ontologie sei. Sie plädiert aber auch dafür, Kausalität so zu verstehen, daß sie ein teleologisches Verhältnis voraussetzt. Dies wird in der Analyse von Grundbegriffen des mechanistisch evolutionären Weltbildes wie »Materie « und »Spielregel«, aber auch an deren nur reduktiven Konzeptionen von Bewußtsein und Sittlichkeit vertieft. Dabei leugnet Spaemann nicht, daß Teleologie sich erst nachträglicher Interpretation erschließt. Naturwissenschaftliche Erklärung kann auf sie verzichten. Doch Ziele und Zwecke sind Kategorien der Selbsterfahrung. Wird ein entfinalisiertes wissenschaftliches Weltbild universalisiert, so tilgt es dieses genuine Humanum. Wissenschaft ist ein Selbstzweck, nicht aber absoluter Zweck, der sich gegen diese grundlegenden und untilgbaren praktischen Vollzüge wenden könnte. Doch auch innerwissenschaftlich zeigt sich, daß die »Entanthropomorphisierung « letztlich fehlschlagen muß: Evolution ist Bedingungswissenschaft und als solche berechtigt. Sie ist aber nicht in der Lage, das Entstehen von Neuem zeigen zu können, und schon gar nicht eröffnet sie den Blick auf die unhintergehbare Phänomenalität, etwa das sich zeigende Schöne, das es um seiner selbst willen zu erhalten gilt. Der Begriff der »Teleonomie« in der modernen Biologie kann als wissenschaftliche Rekonstruktion der Teleologie gelten. Er weist zugleich auf die Unhintergehbarkeit einer funktionalen Betrachtung hin, um Konstruktionsgesetze des Natürlichen zu erkennen.

Die Frage Wozu? ist ein herausragendes Werk: Es verbindet einen großen problemgeschichtlichen Zugriff mit scharfsichtiger, analytisch brillanter Kritik und der Fähigkeit, eine weitgehend aus dem Blick gekommene Zugangsweise zur Welt im Zeichen spätmoderner Krise wieder zu erinnern. Neue Aktualität kommt Spaemanns Buch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit einer Selbstreduktion des Menschen in der Neurowissenschaft und der Evolutionsbiologie und empirischen Anthropologie zu. Es zeigt überzeugend, daß nur vor einem geistigen Hintergrund von mehr als zweitausend Jahren, in Verbindung mit der Erkenntnis des »Hier und Jetzt«, unreflektierte Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden können. Auf diese Weise ist es einer der ganz großen Beiträge zur Wiederentdeckung alteuropäischer Denkformen.

Ausgabe

  • Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart: Klett- Cotta 2005.

Literatur

  • Thomas Buchheim, Rolf Schönberger, Walter Schweidler (Hrsg.): Die Normativität des Wirklichen. Über die Grenzen zwischen Sein und Sollen. Robert Spaemann zum 75. Geburtstag. Stuttgart 2002.
  • Reinhard Löw (Hrsg.): Oikeiosis. Festschrift für Robert Spaemann, Weinheim 1987.
  • Hans-Gregor Nissing (Hrsg.): Grundvollzüge der Person. Dimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann, München 2008.
Der Artikel wurde von Harald Seubert verfaßt.